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Ein dreckiges, kleines Geheimnis: Wie Modedesigner in der Modeindustrie ausgebeutet werden

Von Jackie Mallon

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Mode

Eine Designerin sitzt in einem sonnendurchfluteten Büro in Midtown New York. Ihr Vorstellungsgespräch bei dem Unternehmen läuft gut. Ihr Portfolio kommt hervorragend an, sie hat mit ihrem Lebenslauf Eindruck hinterlassen und die Personaler auf der anderen Seite des Tisches nicken zufrieden. Es fallen Sätze wie „Wenn Sie bei uns einsteigen“, „Wir würden Sie gerne dem CEO vorstellen“ und sogar Gehalt und Homeoffice-Regelungen sind bereits geklärt.

“Doch zuerst“, sagt einer, und beide sehen sich an. Es folgen die gefürchteten Worte:

“...zuerst würden wir gerne ein Projekt von ihnen sehen...”

Das geheime Talent

Wenn man hört, welche Summen Designer wie Raf Simons bei einem Wechsel ihrer Arbeitgeber kassieren, könnte man meinen, die Nachfrage nach Designern sei hoch und der Beruf gut bezahlt. Doch so ergeht es nur dem obersten Prozent. Alle anderen - gut ausgebildete, professionelle Designer, zeichnen Produkte, erstellen technische Zeichnungen, müssen Deadlines einhalten und arbeiten in Fabriken, um sicherzustellen, dass die Samples zur rechten Zeit in der Showlocation ankommen, wo der gefeierte Modemacher an der Spitze der Hierarchie den ganzen Applaus dafür absahnt.

Nennen wir Sie 'arbeitende' Designer: Senior Designer, die seit über zehn Jahren in der Branche tätig sind, und ihre Karriere hinter den Kulissen der großen Häuser verbringen. Sie haben kein Interesse daran, ihre eigene Linie zu lancieren, oder zumindest noch nicht. Aber eine Stellung auf der Mitte der Karriereleiter zu halten, wird zunehmend schwieriger. Senior Designer-Positionen gibt es immer weniger und von unten rücken ständig Praktikanten, Juniors und günstigere Freelance-Designer nach. So manch einer muss sich deshalb mit mehreren Jobs über Wasser halten.

Mehr als nur ein Projekt

'Projekte' waren ursprünglich als eine Möglichkeit gedacht, bei der ein Bewerber zeigen konnte, dass er die DNA des Unternehmens verstand und den Stil zu treffen in der Lage war. Theoretisch eine gute Idee, denn in der Gestaltung ist es von besonderer Wichtigkeit, dass der Designer versteht, was die Marke will und braucht. Dass sich dies in Worten schlecht ausdrücken lässt, zeigt die Anweisung, die ein Designer von einem Interviewer an die Hand gegeben bekam: „Wie Tommy, aber moderner; wie Ralph, aber relevanter; J Crew mit weniger Farben; Heritage, aber zeitgemäß.“

Doch in den letzten Jahren hat sich diese Praxis zu einer echten Herausforderung für Designer entwickelt. Nicht etwa, weil sie es scheuen, sich der Konkurrenz zu stellen, sondern weil die 'Projekte' häufig darauf hinaus laufen, dass das Unternehmen die Designer für ihre Arbeit nicht bezahlen. „Haben sie dich auch gefragt, ob du ein 'Projekt' machen willst?“, fragen die Kreativen sich untereinander. Nach harter Arbeit, in die der Designer sein Herzblut gesteckt hat, um so ein Projekt abzugeben, kommt oft nicht einmal mehr eine Absage. Nicht selten tauchen Ideen, die die Designer auf diese Weise erarbeiten, später in der Kollektion auf, ohne dass die Designer je Teil des Teams geworden wären, Geld dafür gesehen hätten, oder sich dagegen wehren könnten.

Natalies Geschichte

Eine Designerin, Natalie, verfügt über langjährige Erfahrung im Premium- und Contemporary-Segment. Sie bewarb sich kürzlich bei einer etablierten Brand mit klassischem preppy Look. Beim vierten Interview bekam sie die das Projekt-Briefing. Sie sollte sechs Kleider, 5 Blusen, 5 Blazer, 5 Röcke sowie jeweils technische Zeichnungen dafür erstellen. Zusätzlich sollte sie Prints und Stoffmuster bereitstellen. Es war also ein nicht gerade kleines Projekt. In dem Briefing war die Deadline mit zwei Wochen angegeben, aber der Interviewer verlangte von ihr, es in einer Woche fertigzustellen. Außerdem wollte das Unternehmen, dass Nathalie bei ihren Gehaltsverhandlungen um 40.000 Dollar nachgab. Nathalie war nicht willens, diese Arbeit umsonst zu verrichten und bot an, dass sie für einen Monat auf Freelance-Basis für das Unternehmen tätig werden würde, woraufhin sie einfach gar nichts mehr von der Firma hörte.

Stevens Geschichte

Ein anderer Designer, Steven, kennt diese Masche ebenfalls. Er sagt: „Das ist eine Praxis in der Modewelt, über die keiner spricht. Ein dreckiges kleines Geheimnis. Keine andere Industrie, von der ich weiß, beutet ihre Profis so aus. Und wenn du verzweifelt nach Arbeit suchst, riskierst du bei Ablehnung, dass man dir die Tür vor der Nase zuwirft, also willigst du ein. Ich habe schon von Leuten gehört, die nach einem Projekt eine feste Stelle bekommen haben, aber ich habe noch nie jemanden persönlich getroffen, bei dem das funktioniert hat. Vielleicht handelt es sich um eine Urban Legend.“

Steven erinnert sich, dass ein Unternehmen in einem Projekt-Briefing eine gesamte Frühjahrs- und eine gesamte Herbstkollektion von ihm sehen wollte. Das waren vier verschiedene Lieferungen, mit Mood Boards, vier verschiedenen Farbpaletten und natürlich inklusive technischer Zeichnungen. „Es war ein Unternehmen, für das ich wirklich gerne gearbeitet hätte“, erzählt er mit einem Schulterzucken, „also habe ich echt hart dafür geackert.“ Auf die Frage, was daraufhin passiert sei, antwortet er, dass HR ihm einen Zweizeiler geschickt habe, in dem es hieß, man wolle weiter nach der passenden Besetzung für die Stelle suchen. „Ich habe später über Umwege gehört, dass sie immer noch suchen. Das war vor neun Monaten.“”

Eine Industrie ohne Gleichen

Bei Architekten beispielsweise ist es nicht üblich, vor Beginn eines Projekts Blaupausen der neuesten State-of-the-art-Gebäude abzuliefern. Von einem Koch würde nicht erwartet werden, erst einmal das ganze Büro zu bekochen – oder auch nur ein Rezept per E-Mail zu schicken. Die Website NoSpec.com unterstützt Designer, vor allem im Bereich Grafikdesign, bei ihrem Kampf gegen unbezahlte Arbeit. Viele sollen sogenannte 'Specs' abgeben, also Expertenarbeit ohne Bezahlung. Auf der Website heißt es: „Spec-Arbeiten haben eine schädliche Auswirkung auf die Qualität des Designs und beeinflussen sowohl den Designer als auch den Kunden negativ.“ Aber darüber hinaus etwas über diese heimliche Ausbeutung zu finden, ist überraschend schwierig. Ich werde bei der 'Harvard Business Review' fündig. Dort gibt in einem Artikel mit dem Titel 'Projects are not Job Interviews' ('Projekte sind keine Einstellungsgespräche'). Auch die New York Times hat sich dem Thema bereits angenommen. Sie nennt die projektbasierten Bewerbungsaufgaben „Test-Drives“, die sich für Unternehmen als erfolgreich erwiesen hätten. Auf die Überschriften folgt aber schnell die Erkenntnis, dass sich die Artikel nicht um die Modeindustrie, sondern um Tech-Unternehmen drehen, wo es gängige Praxis ist, diese Art von Projekten auf Verträgen basierend zu bezahlen. In der Modebranche sieht das ganz anders aus .

Die unlautere Praxis hat sich über die Jahre immer weiter intensiviert und scheint ausschließlich in der Modeindustrie (und im Grafikdesign) zu existieren. Sie betrifft kleine wie große Unternehmen und selbst solche, die sich Fair Trade und ethische Standards auf die Fahne geschrieben haben. Und es scheint sich auszuzahlen, den Job-Kandidaten gegeneinander auszuspielen und für eine offene Jobausschreibung mehrere Projektarbeiten zu kassieren.

Persönliche Erfahrung

Als ehemalige Designerin habe ich auch selbst Erfahrung mit dieser Art von 'Projekten'. Ich habe aber auch einen Job damit bekommen. Das war allerdings schon von zehn Jahren und das Unternehmen wollte wirklich sehen, ob ich ein Gefühl für die Marke hatte. Man gab mir ein Thema vor, ich konnte aber frei wählen, für welche Saison und welche Anzahl an Kleidungsstücken ich designen wollte. Vielleicht begann es damals als legitime Auswahlpraxis und entwickelte sich langsam in eine Nische, innerhalb derer Talent ausgenutzt wird?

Eine weitere häufig auftretende Beschwerde unter Designern ist, dass die Unternehmen nicht spezifisch genug mit ihren Anforderungen sind. Man wolle „nur sehen, was Sie sich ausdenken“, heiße es oft von den Unternehmen. Ich erinnere mich gut an eine Firma, die ihre Ästhetik als „zwischen Dries Van Noten, Isabel Marant und Vanessa Bruno“ beschrieb, aber „bei einem moderaten Preis und für einen amerikanischen Kunden“. Ich reichte meine Vorschläge anhand dieser 'Guideline' ein und hörte anschließend nichts mehr von dem Unternehmen. Auf Nachfrage sagte man mir, die Position sei nun nicht mehr zu besetzen.

„Sie wollen, dass man scheitert,” sagt Steven, „weil sie eigentlich nicht wissen, was sie wollen. Du sollst eben für sie in die Zukunft sehen.”

Portfolio und Urheberrechte

Auch wenn die abgegeben Arbeit natürlich in das Portfolio des Designers wandert, die digitalen Dateien sind im Besitz des Unternehmens, das sie umsonst bekommen hat. Dort entwickeln sie eine Eigenleben, von dem der Designer nichts weiß. Gerade bei Modedesignern ist die Rechtslage von geistigem Eigentum schwammig, weil es sich um Gegenstände des täglichen Gebrauchs handelt. Ähnlich verhält sich die Sachlage bei Tattoos, Möbeln, Autos, Rezepten und Witzen. In Johanna Blakleys TED Talk 'Lessons From Fashion’s Free Culture', erklärt sie die 'Kultur des Kopierens' in der Modebranche: „Anders als bei Bildhauern, Malern oder Musikern ist 'Sampling' bei Modedesign kein Problem. Jedes Element, dass sich ein Designer ausgedacht hat, kann von einem anderen Designer weiterverwendet werden.“

Unternehmen wie Yves Saint Laurent und Burberry haben bereits Verfahren gegen andere Marken eingeleitet, weil sie ihre Urheberrechte verletzt sahen – sie haben ja auch die Mittel dazu. Ich glaube aber nicht, dass ein Jobsuchender sich auf einen kostspieligen Prozess einlassen will und so seine Zukunft in der Branche gefährden möchte. Die Unternehmen sitzen also am längeren Hebel und das wissen sie. Gerade deshalb ist diese Praxis so weit verbreitet und außerhalb des Kreises der Betroffenen so wenig bekannt.

Erst wenn man dieses zwielichtige Geschäftsgebaren ans Licht bringt, kann begonnen werden, daran zu arbeiten. So können wir die Unternehmen, die es praktizieren, auf diese Weise wissen lassen, dass wir ihnen auf die Schliche gekommen sind. Eine faire Bezahlung von Dienstleistungen wird in anderen Branchen praktiziert und die Mode sollte da keine Ausnahme sein. Eine schnelle Benachrichtigung zum Bewerbungsstatus und ein Feedback zu der geleisteten Arbeit sind das Mindeste, was ein Designer erwarten dürfen sollte. Diese milliardenschwere Industrie lebt von den Leistungen der im verborgenen Arbeitenden. Die, die für die Magie der Produkte zuständig sind, sollten wenigstens ein bisschen Respekt verlangen dürfen.

Steven fasst es so zusammen: „Ja, man fühlt sich ausgebeutet. Nicht nur für die Zeit und Arbeit, weil man sein Bestes gegeben hat, obwohl die Anleitung vage war, sondern auch für die Materialkosten, die man hinein steckt: die Farben, der Druck, die Stoffproben – das summiert sich. Und dann kommt nichts dabei heraus“

Dieser Artikel wurde von Jackie Mallon geschrieben. Sie unterrichtet an verschiedenen Mode-Kursen in New York und ist die Autorin des Buches 'Silk for the Feed Dogs', ein Buch über die internationale Modeindustrie.

Alle Bilder von Jackie Mallon für FashionUnited

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