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Heilsversprechen für den stationären Handel: Wie die Corona-Krise den Einzelhandel zum Umdenken zwingt

Von Gastautor

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Der Corona-bedingte Wandel von Konsumentenwerten und damit veränderten Bedürfnissen, angepasstes Verhalten und neuen Sehnsüchten ist nicht von vorübergehender, sondern dauerhafter Qualität. Damit ist der Einzelhandel gefordert, dem veränderten Konsumverhalten mit tragfähigen und dauerhaft erfolgreichen Konzepten zu begegnen. Ulrich Köhler, Geschäftsführer der Innovationsberatung Trendbüro, erklärt die Hintergründe für verändertes Konsumentenverhalten, Auswirkungen auf den Textileinzelhandel und Lösungsansätze für einen Weg aus der Krise.

Über sieben Monate nach Beginn der Corona-Krise verfestigt sich eine Prognose aus den frühen Tagen der Pandemie: Die Krise dient als Katalysator für technologischen, gesellschaftlichen und ökomischen Wandel, der zwar bereits in der Zeit vor März 2020 eingesetzt hatte, aber erst durch die Krise breite Massen erfasst hat. Leidtragende dieser Veränderung sind unter anderem die Textileinzelhändler, die gleich mehrfach von den Veränderungen betroffen sind.

Wertewandel beeinflusst Konsum

Seit dem Frühjahr und den ersten Corona-bedingten Maßnahmen der Politik hat das Trendbüro den Wertewandel fortlaufend beobachtet und dokumentiert. Dabei hat sich früh abgezeichnet, dass Gesundheit – bereits im Jahr 2019 der Deutschen wichtigster Wert – noch einmal an Bedeutung zulegen konnte und alle anderen Werte hinter sich ließ. Lediglich der Wunsch nach Freiheit – sei es ein Weniger an Verordnungen oder die zunehmende Reiselust – ist in den vergangenen Monaten deutlich angestiegen und hat die anfangs dominierenden Diskussionen um Gerechtigkeit abgelöst.

Diese Werteverschiebung hin zu Gesundheit und Freiheit führte bereits zu Krisenbeginn zu einer Zurückhaltung im Konsum. Diese hat sich mittlerweile zu einer reflektierteren Haltung dem eigenen Konsum gegenüber gewandelt: Mehr noch als in den vergangenen Jahren hat es die Nachfrage nach hochwertigen und zeitlosen Produkten aus möglichst nachhaltiger und/oder lokaler Produktion befeuert. Emotionsgeleitete Spontankäufe haben einer bewussteren Bedarfsdeckung Platz gemacht. Schon früh zeigte ein Blick nach China, wie sich das Kaufverhalten dauerhaft verändert: Ladenbesuche werden seltener, gezielter – die Warenkörbe dafür oft größer.

Verlässliche Strukturen bevorzugt

Marken, die vor und während der Krise Verantwortung gegenüber den eigenen Mitarbeitern oder der Gesellschaft übernommen haben, profitieren dauerhaft vom gestiegenen Konsumentenwunsch nach klarer Haltung von Unternehmen. Und umgekehrt: Laut Edelman Trust Barometer kehren 71 Prozent der Konsumenten Marken den Rücken zu, die Profit über das Wohl der Menschen stellen. Doch gerade, was klare Positionen und eine deutliche Kommunikation darüber angeht, ist die Modebranche traditionell eher zurückhaltend. Die Home-Office-Revolution der vergangenen Monate hat zudem zu einer Beschleunigung der ohnehin grassierenden Casualisierung der Businesswelt geführt. So melden die Hersteller von Business Outfits seit Krisenbeginn meist zweistellige Umsatzeinbußen. Ein Ende dieser Krise ist nicht in Sicht, weiten doch immer mehr Unternehmen ihre Home Office Regelungen in dauerhafte Angebote für ihre Belegschaft um.

Doch diese Entwicklungen werden allesamt von den Zuwachszahlen im Onlinehandel in den Schatten gestellt. Obwohl bereits seit dem Sommer alle stationären Händler wieder geöffnet haben, bevorzugen viele Konsumenten weiterhin die als verlässlich empfundenen Strukturen der Webshops. Während E-Commerce in Deutschland laut bevh im dritten Quartal über 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr zulegen konnte, lag der Modeeinzelhandel laut Textilwirtschaft TestClub auch im September noch 18 Prozent unter den Zahlen des Vorjahres. Allein Zalando hat zuletzt die Prognose für 2020 angehoben und peilt eine Verdoppelung des Betriebsgewinns an. Es ist ein offenes Geheimnis, dass immer mehr Einzelhandelsketten Teile ihrer Innenstadtlagen untervermieten oder gar ganz aufgeben möchten – in der Hoffnung, ihre Fixkosten zu senken und eventuell über ein funktionierendes Flächenkonzept zu stolpern. Denn leider gilt immer mehr, was im vergangenen Monat Michael Reink vom HDE auf den Punkt gebracht hat: „Kein Mensch muss zum Einkaufen noch in die Stadt kommen“.

Foto: John Cameron/Unsplash

Ergebnisoffener Austausch mit Zielgruppe

Die Liste kolportierter Lösungen ist lang: Sortimentsreduzierung, Personal schulen, Omnichannel-Strategie entwickeln, sozialen Kontakt meiden, Themenwochen einführen, zusätzliche Services anbieten – um nur eine Auswahl zu nennen. Was solche Heilsversprechen für den stationären Handel oft übergehen, ist ein kundenzentrierter Ansatz: Wer ist meine Zielgruppe? Auf wen konzentriere ich mein Angebot und wen spreche ich bewusst nicht mehr an? Welches Problem der Zielgruppe löse ich mit meinem Angebot? Welche Werte, Bedürfnisse, Sehnsüchte hat sie? Wie kann ich Fläche, Personal, Sortiment und Service auf diese Gruppe hin optimieren? Es ist unwahrscheinlich, dass eine Strategie, die für eine Fast-Fashion-Ketten funktioniert, auch beim unabhängigen Modehändler mit weniger als fünf Mitarbeitern Erfolg bringt. Gerade ko-kreative Ansätze, also der ergebnisoffene Austausch mit der Zielgruppe – sei es in Form von Workshops, informellen Kundengesprächen oder der Analyse von Kundendaten (wenn sie denn vorhanden sind – allein in der Entwicklung digitaler Touchpoints besteht immenser Handlungsbedarf ), führen zu einem echten Verständnis von Lebenswelten, relevanten Angeboten und tatsächlichen Bedürfnissen der Kunden. All das kann in kreative Geschäftspraktiken und damit in steigende Frequenzen und größere Warenkörbe überführt werden. Im Idealfall werden solche Initiativen systemisch, also unternehmensübergreifend gedacht werden: Denn so gut sich ein einzelner Einzelhändler neu erfindet – allein kann er verwaisendes Einkaufsviertel nicht vitalisieren. Kooperationen – oder gar „Coopetition“ – mit einem echten Mehrwert für die Zielgruppe können indes die Attraktivität einzelner Standorte massiv erhöhen.

Abschließend macht aber gerade auch die eingangs erwähnte Werte-Analyse Mut: Der steigende Freiheitswunsch der Konsumenten macht deutlich, dass wir uns immer stärker nach sozialen Begegnungen und einer Rückkehr zu einer unbeschwerten Normalität sehnen. Dass wir uns in diesem Zusammenhang auf eine dynamische Entwicklung der Modetrends freuen können, ist eine Sache. Doch stellen Einzelhändler vor allem jetzt die Weichen richtig und setzen neue Impulse für ein zukunftsfähiges Einkaufserlebnis, können sie diese Sehnsüchte in unternehmerischen Erfolg ummünzen.

Das Trendbüro entwickelt Konsumenten-Insights, Innovationsstrategien und Markenleitfäden für Kunden verschiedener Industrien. Seit 1992 untersucht das Team Megatrends, technologischen Wandel und gesellschaftliche Entwicklungen sowie deren Einfluss auf Konsumenten und Märkte. Sie übersetzen sie in klare Handlungsanweisungen, auf Basis derer sich Unternehmen an den Wandel anpassen und den Kunden von morgen ansprechen können.

Titelbild: Arturo Rey/Unsplash

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