Handelskongress 2021: Es geht um nichts weniger als die Gestaltung der Welt von morgen
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Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Revitalisierung der Innenstädte – darum dreht sich der Handelskongress 2021, der am 17. und 18. November in Berlin live vor rund 200 Teilnehmern sowie online über die Bühne geht. Motto: „Re-Start now. Zeit zum Handeln. Politik, Gesellschaft Handel von morgen“. Das Meta-Thema aber ist – natürlich – die Pandemie, die man für den auf Handel, Politik und Gesellschaft lastenden Transformationsdruck zu einem großen Teil verantwortlich machen darf. Denn „die Pandemie hat uns innerhalb weniger Monate in die Zukunft katapultiert, das traditionelle Geschäft ist massiv unter Druck geraten“, sagt Michael Müller, President Northern, Central and Eastern Europe der Gesellschaft für Konsumforschung GfK. „Die Gewinner von morgen werden diejenigen sein, die sich auf die neue Welt schnell einstellen.“ Daher gelte es jetzt, „schnell, mutig und datengestützt zu handeln“.
Dann also schnurstracks zu den Fakten: 83 Prozent der Verbraucher haben ihr Konsumverhalten geändert, auch die älteren Generationen haben laut GfK den Weg zum Online-Shopping gefunden. Omnichannel-Händler verzeichnen ein Plus von 78 Prozent, während stationäre Non-Food-Händler einen Rückgang von 24 Prozent und die Innenstädte einen Frequenzrückgang von 27 Prozent hinnehmen mussten.
„Das bedeutet: Die Digitalisierung hat sich unglaublich beschleunigt“, sagt Müller. Worin aber auch Chancen liegen, insbesondere in zwei wesentlichen Aufgabenstellungen: der Wiederbelebung der Innenstädte und einer nahtlosen Verknüpfung aller Vertriebskanäle. Eine Schlüsselqualifikation für erfolgreichen stationären Handel liegt für Müller in der Transformation vom funktionellen zum kulturellen Handel, „zu einem Ort der Begegnung, mit Gastronomie, Entertainment, Erlebnis“. Und für das stationäre wie digitale Geschäft gelte es gleichermaßen, “Werte zu erkennen und zu bedienen“, so Müller, denn „62 Prozent der Konsumenten entscheiden sich für Anbieter, die ihre persönlichen Werte glaubwürdig bespielen“. Der wichtigste dieser Werte sei Nachhaltigkeit. Aber: Diese nur zu kommunizieren, nicht aber zu leben, sei jedoch hochriskant. Die Chancen haben also auch Fallstricke zu bieten. Kurz: Es gibt viel zu tun. Und: Es ist kompliziert.
Die Basis: gemeinsames Handeln
Angesichts der Komplexität der Aufgaben, die der Handel kurz-, mittel- und langfristig lösen muss – das wird auf der erstmals gemeinsam vom HDE Handelsverband Deutschland und dem EHI Retail Institute im Hybrid-Format veranstalteten Tagung schnell klar – ist es nicht mehr sinnvoll, die Sphären zu trennen. Handel, Politik und Gesellschaft müssen ihre Energien bündeln, gemeinsame Strategien entwickeln und die daraus folgenden Zielsetzungen mit vereinten Kräften umsetzen. Und auch die obengenannten Themen müssen vernetzt gedacht und bearbeitet werden. Die Bewältigung der durch die Pandemie ausgelösten Krise erfordert „eine große, gemeinsame Kraftanstrengung von Handel und Politik“, so HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. In Zukunft geht es also nur noch Hand in Hand.
Auch das Thema Digitalisierung und Einkauf im Internet ist im Kontext paralleler Entwicklungen zu betrachten. Im Pandemie-Sommer des letzten Jahres „sind über 50 Prozent der Non-Food-Ausgaben ins Internet geflossen“, so Genth. Gleichzeitig „sehen wir, dass Nachhaltigkeit mehr in den Fokus rückt“. Was wiederum die Verbindung zum Thema ‚achtsamer Konsum‘ schafft und der Frage, „wie voll der Kleiderschrank sein muss und ob es richtig ist, sehr günstig zu kaufen“. Auch vor Ort zu shoppen und den lokalen Handel bewusst zu unterstützen, ist für viele Konsumenten während der Pandemie wichtiger geworden. Gleichzeitig aber ist „Einkaufen einer der Hauptbesuchsgründe im Internet“, sagt Genth. Und obwohl die Pandemie den digitalen Transformationsdruck erhöht hat, „ist die Digitalisierung noch nicht da, wo sie stehen muss“.
Bei Douglas zum Beispiel steht, so Digitalchefin Vanessa Stützle, „die weitere Verzahnung aller Kanäle oder 'Ship from Store' und 'Quick Commerce'“ ganz oben auf der Agenda. Bei dem Wohnaccessoires- und Deko-Filialisten Butlers will CEO Wilhelm Josten neben der Verzahnung der Kanäle an der Online-Weiterbetreuung der Kunden im feilen, „das sind die beiden Chancen, die wir haben und die Pure Player nicht haben“. Auch die Corona-Krise sei noch nicht bewältigt, vielmehr, so Stefan Genth, „müssen wir lernen, mit der Pandemie umzugehen“. Daraus ergeben sich nicht nur konkrete Forderungen an die Politik, „auch der Handel muss seinen Beitrag leisten“; so geschehen etwa bei der schnellen und konsequenten Umsetzung der Hygienemaßnahmen, Installierung von Lüftungsanlagen und sogar durch vom HDE initiierte Impfkampagnen. „Nur mit ausreichender Durchimpfung kommen wir durch die Krise“, sagt Genth, daher „haben wir im Handel 150.000 Impfungen durchgeführt“. Doch für all die Aufgabenstellungen, die sich aus den Themen Digitalisierung, Gestaltung der Innenstädte, Nachhaltigkeit ergeben, „brauchen wir Rahmenbedingungen, die digitales Handeln und Wirtschaften ermöglichen“, so Genth.
Die Forderung: Vertrauen und Freiheit
Vor diesem Hintergrund ist „die Aufgabenstellung für die neue Bundesregierung ebenso klar wie ambitioniert: Es geht um nichts weniger, als Deutschland und sein Wohlstandsmodell durch einen tiefgreifenden Strukturwandel in die Zukunft zu führen“, sagt HDE-Präsident Josef Sanktjohanser. Konkret fordert er von der neuen Bundesregierung etwa, in der Tarifpolitik Freiräume für Öffnungsklauseln und betriebliche Vereinbarungen zu erhalten, mehr Vertrauen in die Kraft unternehmerischer Entfaltung und marktwirtschaftlicher Prozesse zu entwickeln und übermäßige Regulierung und Bürokratie im Namen größerer unternehmerischer Freiheit zurückzufahren, auf der anderen Seite aber im Namen gleicher Wettbewerbsbedingungen mehr Marktbeobachtung und -überwachung zu betreiben.
„Hier sind nicht nur die gesetzlichen Rahmenbedingungen wichtig, sondern auch Kontrollinstitutionen“, bestätigt Alexander Birken, CEO der Otto Group, „das ist Teil der Freiheit, die wir brauchen.“ Schließlich sei es immer noch erlaubt, „Plagiate in den europäischen Markt zu bringen“, gebe es nach wie vor „Unternehmen, die hier keine Steuern zahlen müssen“. Gleichzeitig würden die Forderungen an den Handel immer größer. „Wir sollen Anreize für nachhaltigen Konsum schaffen, die Lieferketten in der Tiefe kontrollieren oder Gebäude dämmen“, sagt Birken. Daher hat die Otto Group vor Jahren schon beschlossen, den Weg der „grünen Transformation“ zu gehen und eine bewusste Werteorientierung zu leben. „Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass das Thema Haltung und Werteorientierung sich auszahlt.“ Nach innen, in Bezug auf die eigenen Mitarbeiter, bedeutet dieser Kulturwandel konkret, „Raumschaffende, Enabler, Coaches zu werden“, Stichwort laterale Führung. Auch das ein Weg, der sich auszahlt, denn – davon ist Birken überzeugt – „der Kulturwandel von heute ist unser Umsatz von morgen“.
Der Schlüssel: Werte und Haltung
„Freiraum und Vertrauen und die Möglichkeit, unternehmerische Initiative zu entwickeln“ ist auch für Karsten Kühn, Marketingvorstand der Hornbach Baumarkt AG, die Voraussetzung für eine von individueller Initiative geprägte Unternehmenskultur, die im Sinne der Gemeinschaft funktioniert. „Wir orientieren uns nicht nur daran, was legal, sondern auch was legitim ist“, sagt Kühn. „Der Unterschied zwischen legal und legitim ist der Anstand. Hornbach möchte ein anständiges Unternehmen sein.“ Und in einer Haltung des Anstands „werden die Antworten auf die Fragen, die wir uns stellen, andere sein“.
Ob ethische Fragen Treiber der Transformation bei Daimler sind oder doch eher die Anforderungen des Finanzmarktes, sei dahingestellt. Tatsache ist: Der Umbau des Autobauers ist umfassend und selbst für einen Hersteller schneller Luxusautos rasant. „Ab 2025 wird die Fahrzeugarchitektur bei uns ‘only electric’ sein“, sagt Daimler CEO Ola Källenius. Wie das möglich ist? „Mit einer Haltung, die nicht darüber diskutiert, was nicht geht, sondern darüber, wie es geht“, sagt Källenius. „Ich arbeite nämlich auch bei einem Start-up, wenn auch bei einem, das 135 Jahre alt ist.“ Elektromobilität total also, allerdings nur für PKW. Für die LKW-Sparte steht Wasserstoff auf der Agenda. Denn „für 40Tonner, die bis zu 1000 km pro Tag fahren, sind extrem große Batterien nicht die optimale Lösung“. Damit der Plan aufgeht, ist es mit der Hardware allerdings nicht getan, dafür braucht es auch eine flächendeckende neue Lade- und Betankungsinfrastruktur. Wie das geht, in so kurzer Zeit? Nur „wenn Wirtschaft und Staat Hand in Hand arbeiten“, so Källenius. Also geht es auch für die Autoindustrie – und damit schließt sich der Kreis – nur noch Arm in Arm in die Zukunft. In einem zweiten Streich will Källenius selbstfahrende Autos auf die Straße bringen, wenn auch nicht ganz so schnell: „Technologisch werden wir in dieser Dekade zwar viel hinkriegen, aber bis es erschwinglich ist, dauert es länger“, bis 2040 ungefähr.
Das Ziel: Innenstädte, die leben
So viel zur näheren und ferneren Zukunft. Doch die Corona-Gegenwart hält nicht minder drängende Probleme bereit. „Worauf müssen Handel und Wirtschaft sich mit der FDP jetzt einstellen?“, fragt Moderatorin Dunja Hayali den stellvertretenden FDP-Fraktionsvorsitzenden Michael Theurer. Impfen und Testen und zielgenaue Maßnahmen, das sei die Strategie, um einem Lockdown vorzubeugen. „Wir wollen, dass die Bürgertests immer und flächendeckend bestehen bleiben“, sagt Theurer. „Ein Bürgertest pro Woche reicht nicht aus“, glaubt auch Michael Radau, CEO der SuperBioMarkt AG und HDE Vizepräsident.
Und woran fehlt es sonst noch? An einer flächendeckenden 5G-Abdeckung zum Beispiel. „Werden wir bis Ende 2025 haben“, verspricht Alfons Lösing, Vorstand Telefónica. Oder an einer zielführenden Verkehrspolitik, kartellrechtlichem Durchgriff gegenüber Online-Monopolen und auch an Schnelligkeit, sagt Wilhelm Josten, „Antragsprozesse im Verwaltungsbereich müssen deutlich schneller bearbeitet werden“. Und ganz generell an „einer Ermöglichungskultur“, sagt Michael Radau. Wenn Innenstädte neu gedacht werden sollen, mit Aufenthaltsqualität, mit Handel und Gastronomie, dann „muss man unbedingt bei den Verwaltungen anfangen“, denn da erlebe er Paragraphenreiterei, aber sicher „keine Aufbruchstimmung“.
In Zukunft soll es also, das hofft auch der scheidende CDU-Vorsitzende Armin Laschet, „so bürokratiefrei wie möglich gehen“, man müsse nämlich „alles tun, um den Handel in den Städten zu unterstützen“. Und zwar sofort, schon morgen bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz könneGrundlegendes geschaffen werden. „Der Zeitpunkt für Aufbruch und Gestaltung ist da“, sagt Stefan Genth. Der Handel sei Treiber, Impulsgeber, könne die Politik im besten Sinne beraten und mitnehmen. „Wir sehen uns als Partner der Politik, einer Politik des Miteinanders.“
Dieser Beitrag wurde von Annette Gilles für FashionUnited verfasst.