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DMI Fashion Days: Kann Mode die Sinne zurückerobern?

Die DMI-Zeitgeist-Analyse für Frühjahr/Sommer 2027 unter dem Leitmotto ‚Return to Innocence‘ zeigt eine klare Trendwende: Menschen wenden sich von der digitalen Dauerpräsenz ab und suchen wieder das Analoge, Haptische und Natürliche.
Mode
Miu Miu SS26 Credits: ©Launchmetrics/spotlight
Von Jule Scott

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Es wurde lange vermutet, dass sich eine tektonische Verschiebung im Konsum- und Kulturverhalten vollzieht. Nun ist sie messbare Realität. Gleich zu Beginn der aktuellen Zeitgeist-Analyse des Deutschen Mode-Instituts (DMI) für Frühjahr/Sommer 2027, die unter dem Leitmotto „Return to Innocence“ steht, macht DMI-Chef Carl Tillessen deutlich, dass die Abkehr von der Digitalisierung nicht länger ein Gefühl, sondern eine statistische Tatsache ist.

„Die Menschen wenden sich von der übermäßigen Nutzung sozialer Medien ab“, erklärt er und verweist auf eine Entwicklung, die das vergangene Jahr geprägt hat. Erstmals seit Beginn der Erhebungen ist die Social-Media-Nutzung rückläufig. Im deutschsprachigen Raum sinke der Anteil der Nutzerinnen und Nutzer von 84 auf 80 Prozent, die tägliche Verweildauer verringert sich insgesamt um eine Stunde. In der für die Modebranche besonders relevanten Gruppe der 40- bis 49-Jährigen sind es sogar fast 6,5 Stunden pro Woche weniger.

Und das hat spürbare Auswirkungen, denn während die vergangenen Jahre im Zeichen digitaler Überreizung standen, erlebt die Mode – und die Menschen – nun eine ebenso deutliche Gegenbewegung. Sie kehren zurück ins Analoge, ins Haptische, ins Natürliche und suchen dabei nicht weniger als ihre eigene Unschuld.

Realitäts-Renaissance

Die Abkehr von der digitalen Dauerpräsenz führt zu einer Renaissance realer, sinnlicher Erfahrungen. Plötzlich zeigt die Bildwelt des Internets wieder Menschen, die im Gras liegen, auf der Erde sitzen, mit Stoffen spielen oder in Büchern blättern. Szenen, die nahezu archaisch wirken in einer ansonsten von Displays dominierten Zeit. Diese Rückbesinnung auf das Reale hat direkte Folgen für die Mode. Kleidung und Accessoires werden nicht mehr nur visuell konsumiert, sondern als multisensorische Erlebnisse inszeniert.

„Wir haben ein Nachholbedarfsbedürfnis nach multisensorischen Erlebnissen“, so Tillessen, „nicht nur über den Geruchssinn und den Gehörsinn, sondern über den Tastsinn, um uns selbst und unsere Umwelt wieder zu spüren und echte Verbindung zu anderen herzustellen.“ Marken wie Bottega Veneta inszenieren Hände, die Gewebe ertasten, und Monclers Kampagne „Warmer Together“ zeigt, dass Berührung heute nicht nur ästhetische Qualität besitzt, sondern gesellschaftliche Relevanz als verbindendes Element in einer polarisierten Welt.

Bottega Veneta 'Craft is out Language' Campaign Credits: Bottega Veneta, Fotografiert von Jack Davison

Die vergangenen Modewochen der FS26-Saison zeigten deutlich, dass Stoffe, Texturen und Details gezielt die Sinne ansprechen sollen. Federn und Fransen erzeugen Freude, Taschen fungieren als taktile Statements, die die Aufmerksamkeit auf Haptik und Materialqualität lenken. Auch die Berichterstattung greift diesen Impuls auf. Nahaufnahmen von Kleidungsstücken im Showroom ermöglichen es, das Erlebnis des Testens und Fühlens digital nachzuvollziehen.

Tillessen beobachtet, dass dies eine bewusste Gegenbewegung zur Online-Erfahrung darstellt, bei der in den letzten Jahren virale Momente Vorrang vor greifbaren Erlebnissen hatten. „Die Menschen, die die Kollektionen physisch erleben und berühren können, empfinden das jetzt als Privileg“, so der Trendforscher des Kölner Instituts.

Die Rückkehr ins Reale führt direkt zu einer neuen, fast pragmatischen Bodenständigkeit. „Down to Earth“ beschreibt Tillessen diesen Impuls. Dabei handelt es sich um eine Ästhetik der unspektakulären Momente, fern jeder Romantisierung. Spaziergänge, Fahrradtouren und stille Naturerfahrungen, die früher kaum als modische Narrative taugten, stehen nun im Zentrum einer visuellen Kultur, die sich nach Entlastung sehnt. Designer:innen und Marken greifen diese Sehnsucht in einer betont unaufgeregten Bildsprache auf. Luxusmarken verschenken Blumen anstelle pompöser Geschenke, Duftkerzen riechen nach Tomatenblättern, Gartenscheren werden zu stillen Symbolen des neuen Realismus.

Kittelschürzen werden Mode bei Miu Miu SS26 Credits: ©Launchmetrics/spotlight

Untrennbar damit verbunden ist die Renaissance der Nostalgie, die Tillessen als psychologischen Zufluchtsort in krisenhaften Zeiten interpretiert. Die Nostalgie, die die Mode jetzt prägt, ist keine Vintage-Verklärung, sondern eine intime, fast brüchige Erinnerungskultur. Miu Miu greift Kittelschürzen auf, die an Großmütter erinnern, Ami spielt mit Vichy-Karo, und Fendi öffnet seine Modenschau mit den Enkel:innen der Designerin und macht Familie zum Teil der Marke. Junge Designer:innen wie Mynerva Skytta oder Labels wie Jacquemus arbeiten bewusst mit unscharfen, körnigen Bildern, die an alte Fotoalben erinnern, und selbst Luxusmarken wie The Row verzichten auf Perfektion und wählen Retro-Bilder für ihre Kampagnen und Lookbooks.

Sollte sich die Mode eine Scheibe vom Brot abschneiden?

Vor diesem Hintergrund bekommt ein Motiv unerwartete Symbolkraft: Korn, Stroh, Mehl und Brot. Sie tauchen in Shows, Kampagnen und Editorials plötzlich überall auf.

Was zunächst wie ein ästhetisches Stilmittel wirkt, entpuppt sich als kulturelle Codierung. Korn steht für Reinheit, Stabilität und Vertrauen, für etwas, das man anfassen, verstehen und begreifen kann. Jacquemus inszeniert Kornfelder und das Mahlen von Mehl, Mathieu Blazy dekoriert sein Chanel-Debüt mit goldenen Ähren, und Models wie Kendall Jenner und Gigi Hadid werden von der US-amerikanischen Vogue durch Weizenfelder begleitet.

Tillessen macht deutlich, dass dieses Symbol mehr ist als reine Ästhetik. In den vergangenen Jahren seien Bündnisse, Freundschaften und lang gepflegte Verhältnisse zerstört worden – von internationalen Partnerschaften bis zu etablierten Unternehmen. Wer früher als zuverlässig galt, habe durch Spaltung, Desinformation und Machtmissbrauch Misstrauen erzeugt.

Genau hier setzt die Analyse des Trendforschers bei den sogenannten „Trust Issues“ an, denn der Vertrauensverlust der Menschen sitze tief, so Tillessen. Tech-Riesen, politische Institutionen und Marken, die einst für Stabilität standen, haben an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Selbst Luxusmodemarken wie Max Mara, Dior oder Loro Piana blieben von Skandalen nicht verschont.

In einer solchen Vertrauenskrise stehen Konsument:innen vor der historischen Erfahrung, dass alles hinterfragt werden muss. Brot und Korn signalisieren in diesem Kontext genau das, was in der digitalen und politischen Welt fehlt: Transparenz, Ehrlichkeit und greifbare Reinheit. Sie werden zum Symbol für das, was Menschen wieder als sicher, nachvollziehbar und verlässlich empfinden können. „Vor dem Hintergrund der tiefen Vertrauenskrise scheint das wichtigste Signal, das Marken und Produkte derzeit aussenden können, zu sein: Wir sind die Guten, uns könnt ihr vertrauen.“

Der Wunsch nach Reinheit manifestiert sich auch in „Pure“, eine Strömung die Tillessen als ästhetische wie ethische Haltung beschreibt. Einladungskarten bestehen wieder aus Naturpapier, Taschen erinnern an Pausenbrottüten, Stoffe bleiben roh, offen und ungebleicht, Laufstege gleichen Sand- oder Steinflächen, Models laufen barfuß oder in naturbelassenem Leder. In Schaufenstern tauchen Wurzelbürsten oder sichtbare Nesselstoffe auf. Alles kommuniziert dieselbe Botschaft: unverstellt, echt, vertrauenswürdig.

Am Ende wird deutlich, dass SS27 nicht für neue Silhouetten oder Oberflächen steht, sondern für eine grundlegende moralische Neuorientierung. Es geht um eine Rückbesinnung auf Sinnlichkeit, Authentizität und Vertrauen, um eine spürbare Nähe zur Realität und eine neue Wahrhaftigkeit. „Return to Innocence“ bedeutet nicht, in Naivität zurückzufallen, sondern eine neue Wahrhaftigkeit zu entwickeln – und vielleicht ist genau das die Qualität, die Mode gerade am dringendsten braucht.

Carl Tillessen
DMI
SS27
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