• Home
  • Nachrichten
  • Mode
  • Jean-Jacques Picart: „Es besteht die zwingende Notwendigkeit, Mode neu zu denken und zu schaffen“

Jean-Jacques Picart: „Es besteht die zwingende Notwendigkeit, Mode neu zu denken und zu schaffen“

Von Céline Vautard

Wird geladen...

Scroll down to read more

Mode |INTERVIEW

Als Berater bei jungen Modeschaffenden, Modehäusern und Luxusunternehmen in den Bereichen Modeschöpfung, Kommunikation, Entwicklung und Produktimage kann Jean-Jacques Picart bereits auf eine 45-jährige Erfahrung zurückschauen. Er machte insbesondere Christian Lacroix und Hedi Slimane bekannt und setzte sich auch für die Bewerbung Riccardo Tiscis bei Givenchy ein. Mit FashionUnited greift er die neuesten Ereignisse der Modewelt auf.

Echte Überraschungscoups in der Modewelt sind die Abgänge von Raf Simons und von Alber Elbaz. Was ist von diesen Entscheidungen zu halten? Ist es der Beruf des Kreativdirektors, der zu kompliziert geworden ist, sind es die Zwänge und Strategien der Luxuskonzerne, die nur schwer nachzuvollziehen sind oder kündigt sich gar das Ende einer Epoche bzw. eines Systems an?

Jean-Jacques Picart: Auch wenn möglicherweise ganz unterschiedliche Beweggründe vorliegen, kann ich diese beiden Abgänge nur als starke Botschaft empfinden. Nicht zu vergessen den von Alexander Wang vor einem Monat! Wir leben unverkennbar in einer Zeit großer Anspannung und das derzeitige Modesystem zwingt den Kreativdirektoren und ihren Teams einen Arbeitsrhythmus und emotionalen Einsatz auf, die immer schwieriger zu ertragen sind. Angesichts dieses Überangebots an Kollektionen, limitierten Ausgaben, Geschäftseröffnungen und unterschiedlichen Werbeveranstaltungen, etc. sehen die Kreativdirektoren beklommen, wie ihr Leben immer komplizierter wird und sie davon abhält, gut zu leben.

Parallel dazu drängt die Modekosmos immer mehr auf die Bildschirme unserer Notebooks und Mobiltelefone und alle Welt fordert die sofortige Erfüllung ihrer Begierden durch die Modemarken, ohne jegliche Verzögerung und Zeitverschiebung zwischen Paris und New York, Shanghai und London. Und auch wenn hier von der Mode die Rede ist, gilt dieser Wahnsinn ebenso für die Welt des Films und der Musik. Zu gleicher Zeit erzeugen die (finanziellen, wirtschaftlichen, geschäftlichen und sozialen) Krisen, die wir durchleben, weltweit ein Umfeld der Konkurrenz und der Angst. Zwischen den Erfolgsrezepten von gestern und denen, die es für morgen zu erfinden gilt, gibt es etwas, das nicht mehr funktioniert. Wir befinden uns ganz offensichtlich zwischen zwei Phasen: einer, die vor etwa 15 Jahren entstand und nun einen Kampf ums Überleben führt und einer neuen, noch im Entstehen begriffenen Welt mit derzeit noch sehr unscharfen Konturen. Es besteht die zwingende Notwendigkeit, Mode neu zu denken und zu schaffen.

Das Manifest Li Edelkoorts mit dem Titel "Anti-Fashion" klingt nach diesen Abgängen noch treffender. Was halten Sie von dem Gedanken, „das System Fashion in seiner derzeitigen Form sei vollkommen obsolet?“ Stimmen Sie diesem Gedanken zu?

Ich bin absolut der Meinung Li Edelkoorts, bin aber vermutlich weniger radikal als sie. In der Mode ändern sich die Dinge nicht von einem Tag zum nächsten. Eine Zeitlang überlagern die neuen Trends die alten, bevor sie sie dann endgültig verdrängen. Heutzutage muss man den Akt des Kaufens herbeiführen, ihn aber zugleich von jeglichem Schuldgefühl befreien. Die magische Gleichung heißt jetzt: eindeutige Identität + verlockende Neuheit + langfristige Nutzung + fairer Preis!

Nach der so überaus geliebten übersteigerten Kreativität erntet nun die gebändigte Kreativität Beifall. Leidenschaft und Vernunft regeln das Tempo der Mode.

Was ist von der Entscheidung Balenciagas zu halten, sich weniger bekannten Modeschaffenden des "Starsystems" zuzuwenden und ein Mitglied der Bekleidungsbranche zum Kreativdirektor zu wählen? Ist das die Risikobereitschaft, die einen neuen Trend veranschaulicht?

Es gibt tatsächlich die Tendenz, "falsche" junge Talente als Erfinder einer neuen Zeit zu privilegieren. Aber alles ist eine Frage des finanziellen Einsatzes: Je mehr Macht die Modemarke besitzt und je mehr hohe Einkommen sie erzeugt, desto schwerer wiegt die Gefahr eines Irrtums…

Wie hat sich also Ihr Beruf entwickelt? Kann man heutzutage die Modemarken noch ebenso empfehlen wie in der Vergangenheit? Was sind die neuen Herausforderungen?

Ich habe niemals daran geglaubt, den Marken, die meine Kunden sind, Ratschläge zu erteilen. Vielmehr erlege ich mir auf, ihre Überlegungen zu begleiten, um ihre Entscheidungsfindung und ihre Handlungen zu optimieren. Und mehr denn je weiß ich heute, dass es kein Rezept, keinen magischen Trank gibt und dass die Chancen, damit zurechtzukommen umso größer sind, je besser man auf Unterschiedlichkeit, Integrität, Ehrlichkeit und Neuheit setzt.

Jean-Jacques Picart