Kleidergrößen: Wie können digitale Mode und Technologien Marken dabei helfen, inklusiver zu werden?
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Small, Medium, Large oder Extra Large? Warum definiert die Industrie weiterhin eine Vielzahl von Körpertypen in einer so kleinen Bandbreite von Größen? Wenn es in der Mode zunehmend darum geht, eine Vielzahl an Identitäten auszudrücken, warum werden wir dann immer wieder auf Standards reduziert?
Die Größenfrage in der Modeindustrie ist kein neues Thema und doch könnte man argumentieren, dass sie nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit behandelt wird. Seit Jahrzehnten beschweren sich die Menschen darüber, dass sie ihre Größe in den Geschäften nicht finden können oder durch wechselnde Größen verunsichert oder gar entmutigt werden. Die Geschichten über traumatische Einkaufserlebnisse sind endlos.
Wenn Sie glauben, dass Online-Shopping dieses Problem lösen kann, muss ich Ihnen leider sagen, dass das nicht stimmt. Traditionelle Geschäfte, die die gleiche Kleidung online verkaufen, machen immer noch die gleichen Fehler, und die Menschen retournieren ihre Kleidung in nie zuvor gesehenem Ausmaß. In den USA lag die durchschnittliche Rückgabequote bei Online-Einkäufen im Jahr 2021 bei 20,8 Prozent was einem Anstieg um 15 Prozent gegenüber 2020 ausmacht. Das entspricht 218 Milliarden US-Dollar an retournierten Online-Käufen, so die Analyse der amerikanischen National Retail Federation und des Dienstleisters Appriss Retail.
Die Menschen finden ihre Größe nicht, genießen ihr Einkaufserlebnis nicht und fühlen sich von einer Branche, die im Wesentlichen zur Selbstdarstellung geschaffen wurde, nicht vertreten. Was also ist zu tun?
Wir haben drei Expertinnen auf dem Gebiet der digitalen Mode und der Inklusion von Größen gefragt, wie sie das Problem sehen und was die Zukunft bringen könnte.
Kennen Sie Ihre Plus-Size-Kunden?
Für Virgie Tovar, Body-Positive-Aktivistin, Autorin und Mitarbeiterin bei Forbes, beginnt alles mit der Erkenntnis und dem Eingeständnis, wie schlecht die Vielfalt der Körper in der Mode dargestellt wird: „Wir müssen damit beginnen, anzuerkennen, dass in den Vereinigten Staaten 70 Prozent der Frauen Übergrößen haben. Es ist wirklich schwer, das zu akzeptieren, wenn wir bedenken, wie die Strukturen, nicht nur in der Mode, wirklich geschaffen werden. Und sie werden geschaffen, um das zu bedienen, was in der Tat die Körperform der Minderheit ist.“
Tovar gibt ein Beispiel dafür, wie GAP Inc. mit den Marken Old Navy und Athleta begann, den Markt für Übergrößen zu erforschen, indem es Marktforschung darüber betrieb, was die Menschen mit Übergrößen wollten: „Die Marken sagten, sie hätten keine Marktdaten und dass diese Frauen keine Kleidung kauften, und wenn doch, dass sie keine wiederkehrenden Kundinnen seien. Das Problem war aber die Rückkopplungsschleife: Sie wurden nicht als wünschenswerte oder legitime Kundschaft angesehen. Eine Marke brachte zum Beispiel eine Plus-Size-Kollektion auf den Markt oder führte eine Plus-Size-Marke ein, ohne dafür Werbung zu machen. Im Resultat läuft das Geschäft nicht gut. Das wiederum übersetzt sich zu Daten.“
Was können wir tun, um dieses Szenario zu ändern? „Wir müssen grundlegend ändern, wie wir über Plus-Size-Kundschaft denken. Die vorherrschende Meinung in der Modebranche war über lange Zeit, dass ‚die Plus-Size-Kindin‘ „keine Übergrößen haben will, sie will nicht in eine Garderobe investieren, weil sie immer versucht, dünn zu werden. Wir haben es hier mit einem Kulturwandel zu tun", sagte die Aktivistin. Und ergänzt: „Nichts deutet darauf hin, dass Plus-Size-Personen massenweise zu schlankeren Personen werden. Anstatt darauf zu setzen, gibt es Body Positivity, die Idee, dass man genau mit seiner Größe ein tolles Leben führen kann."
Die Redakteurin von FashNerd, Muchaneta Kapfunde, pflichtet dem bei: „Das am schlechtesten gehütete Geheimnis ist, dass die Modemarken sich schuldig gemacht haben, ihre Maßstäbe zu verschieben, damit sich die Kund:innen dünner fühlen. Das ist der Aufstieg der so genannten Eitelkeitsgrößen.“ Sie veranschaulicht dies anhand einer persönlichen Erfahrung: „Ich war bei French Connection einkaufen, dort passte mir Kleidergröße 10 und dachte: ‚Oh wie toll, ich habe Größe 10.‘ Und dann ging ich zu Topshop und hatte eine 12 bis 14. Ich wusste nicht mehr, welche Kleidergröße ich hatte, weil es so unterschiedlich war. Kapfunde weiß, dass einige Marken dies als Strategie nutzen, indem sie die Größenstandards ändern, damit sich die Frauen besser fühlen und mehr kaufen. Die Kleidergröße ist für diese Zielgruppe im Allgemeinen ein sehr emotionales Thema.“
Technologie kann helfen, aber zu welchem Preis?
Muchaneta, die seit Jahren über Mode und Technologie berichtet, hat an vielen aufregenden Projekten mitgearbeitet, die den Verbraucher:innen beim Kampf um die richtige Größe helfen sollen, aber sie kennt auch die Herausforderungen, vor denen die Branche steht: „Es gibt Technologien, die der Kundschaft helfen, die richtige Größe zu kaufen. Aber es gibt das Problem des Datenschutzes, weil dabei Daten gesammelt werden. Auch wenn diese Innovationen der Branche helfen, vor allem bei Retouren-Problemen, entsteht dadurch ein weiteres Problem, nämlich das der Privatsphäre.“ Und Kapfunde wirft die Frage auf: „Wie wohl fühlen wir uns als Frauen dabei, alle Informationen über die tatsächliche Größe unseres BHs preiszugeben? Das sind die Informationen, die wir gerne für uns behalten. Das ist die Art von Innovation, die ein Problem behebt, aber auch eines in den Vordergrund rückt.“
„Die Daten gehören den Kund:innen“, betont Nicole Reader, CEO und Gründerin von Modern Mirror, einem Anprobesystem, das 3D-Scans und die Erfassung von Körperbewegungen nutzt, um das Einkaufserlebnis zu verbessern. „Die Kundschaft bestimmt, mit wem, wann, wo und wie diese Daten geteilt werden, wann sie gelöscht werden, dass sie nicht auf Servern gesammelt und anschließend verkauft werden. Aber wie können wir diese Daten nutzen und als aggregierte Daten weitergeben, nicht die persönlichen Daten der Menschen? Was können wir mit den Marken an die Hand geben, damit sie anfangen können, Kleidung herzustellen, die unseren Kund:innen besser passt?“ Sie fügt hinzu: „Wir müssen sehr vorsichtig sein, wie diese Daten weitergegeben werden, wem sie gehören und wie wir unsere Verbraucher:innen unterstützen können.“
Für Reader und ihr Unternehmen ist der Datenschutz ein zentrales Thema, nicht nur in Bezug auf die Datenerfassung, sondern auch, weil die Anprobe ein heikler Moment ist: „Ich hatte schon Kund:innen, die nicht in die Umkleidekabine gehen wollten, und ich verstehe das. Ich fühle mich auch nicht wohl dabei, in die Umkleidekabine zu gehen und mich selbst zu sehen. Man hat uns nicht beigebracht, unser Aussehen zu akzeptieren.“ Deshalb versteht Reader, dass es nicht nur um die Größe geht: „Wir müssen die Frage der Größe hinter uns lassen. Es geht darum, wie unsere Kleidung an uns sitzt. Es spielt keine Rolle, welche Größe wir tragen, solange wir das richtige Outfit haben und es gut aussieht, wir uns darin wohlfühlen und es unserem Körper passt, das ist es, was wirklich zählt.“
Ein veränderter Modus Operandi
Für die Modeindustrie bedeuten Retouren im Allgemeinen nicht nur Gewinneinbußen, sondern auch eine erhebliche Umweltbelastung bei jeder Transaktion. Aber warum schicken die Menschen so viele Artikel zurück? Reader erklärt: „Mehr als 30 bis 40 Prozent der Menschen geben zu, dass sie das gleiche Kleidungsstück in drei verschiedenen Größen kaufen, wohl wissend, dass sie zwei von drei Kleidungsstücken zurückgeben werden. Im Jahr 2019, noch vor der Pandemie, machte Revolve einen Umsatz von über 450 Millionen [US-Dollar], aber die Verluste lagen bei über 500 Millionen [US-Dollar] aufgrund von Retouren und Umtausch. Ganz abgesehen von den Gewinneinbußen ist dies unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ein beträchtlicher CO2-Fußabdruck für den Hin- und Rücktransport.“
Muchaneta Kapfunde fügt hinzu: „Ein Unternehmen namens Precise hat festgestellt, dass nur zwei Prozent der Einkaufenden tatsächlich die Kleidungsstücke in der perfekten Größe finden. Diese Zahl hat mich wirklich schockiert. Man denkt vielleicht an 30, 40 Prozent, aber zwei Prozent?“ Und was ist die Lösung? Für die Herausgeberin von FashNerd liegt die Lösung in einer strategischen Zusammenarbeit zwischen der Modebranche und Technologieunternehmen: „Die Branche hat immer noch keine Ahnung von Innovation. Das ist etwas sehr Neues, etwas sehr Beängstigendes für sie. Hier kommt Kooperation ins Spiel. Warum arbeiten Sie nicht mit einem der Start-ups zusammen, die diese Lösungen mitbringen, und finden heraus, wie Sie bessere Zahlen als die zwei Prozent erreichen können?“
„Die Macht sollte nicht allein dem Einzelhandel überlassen werden“, sagte Kapfunde. „Ich würde es begrüßen, wenn die Verbraucher:innen diese Macht zurückerobern und selbst gestalten könnten. Stellen Sie sich vor, Sie erstellen Ihren eigenen Avatar über eine App mit Ihren exakten Maßen, auf die nur Sie Zugriff haben. Wenn Sie also online einkaufen, verwenden Sie diese App, um so nah wie möglich an Ihre Größe heranzukommen. So hat nicht mehr das Einzelhandelsgeschäft Ihre Informationen, sondern Sie selbst. Im Moment vertrauen viele Menschen den Marken nicht. Sie müssen unser Vertrauen zurückgewinnen.“
Seit der ersten industriellen Revolution hat die Modeindustrie das System beherrscht: Größen, Farben, Stoffe - die hierarchische Struktur einer Pyramide. Es ist für Unternehmen, die dies gewohnt sind, schwer zu begreifen, dass die Verbraucher:innen in Wirklichkeit ihre eigenen Körper, Größen und Ideen haben. Die digitale Mode könnte endlich einen Wandel herbeiführen, bei dem die Verbraucher:innen als Mitgestaltende auftreten. Aber ist die Modeindustrie dazu bereit? Wir hoffen es.
Dieser Artikel wurde zuvor auf FashionUnited.uk veröffentlicht. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ