Lässigkeit, Eskapismus und Denim auf der Haute Couture Woche in Paris
Wird geladen...
Alltagstaugliche Couture als Heilmittel schien das Motto der Haute-Couture-Schauen in Paris zu sein. Während tödliche Schüssen auf den 17-jährigen Nahel Merzouk durch die Polizei eine Welle an teils gewaltsamen Protesten in der französischen Hauptstadt auslöste, gab sich die Elite der Modewelt den feineren Dinge des Lebens und der hohen Schneiderkunst hin.
Einige Modeschöpfer:innen schienen diese aktuellen Geschehnisse abzubilden, obwohl sie diese im Entstehungsprozess noch gar nicht ahnen konnten. Nichtsdestotrotz überraschten vereinzelte Schauen mit Zurückhaltung und einem Hauch von Lässigkeit – Worte, die man selten mit Haute Couture in Verbindung bringt –, während anderswo Surrealismus und Opulenz weiterhin im Mittelpunkt standen.
Zurückhaltender Surrealismus und ein Hauch Realismus
Daniel Roseberry, der aktuelle Meister des Surrealismus, hat sich für Schiaparelli an der Gründerin Elsa Schiaparelli orientiert und sich von Künstler:innenn inspirieren lassen. Seine Kollektion, die sicherlich weniger umstritten, aber nicht weniger meisterhaft war als die der letzten Saison mit ihren präparierten Löwenköpfen, enthielt Spuren von Yves Klein und Lucian Freud und trug passenderweise den Titel "... and the artist".
Es gab fließende, aber exaggerierte schwarze und weiße Mäntel mit experimentellen Formen, einen Hauch von durchsichtigen Korsetts und Kleider, die an die Farbpalette von Maler:innen erinnerten, sowie schlichte schwarze Looks, die durch leuchtendes Yves Klein Blue und das charakteristische Gold der Marke kontrastiert wurden. Hölzerne Arme und Raupen-Silhouetten sorgten für einen ungewöhnlichen Twist. Doch auch wenn der Surrealismus auf dem Schiaparelli-Laufsteg die Oberhand behielt, war die Kollektion für die Verhältnisse der Marke eher ruhig und ermöglichte es, die meisterhafte Handwerkskunst ohne allzu viele Ablenkungen zu genießen.
Ohne Schnickschnack und Ablenkung ging es weiter zu Dior, wo Kreativdirektorin Maria Grazia Chiuri eine ebenso schlichte wie zarte Kollektion präsentierte. Die Designerin ließ sich von griechischen und römischen Musen inspirieren und kleidete die Models in zarte weiße Seidenstoffe, nymphenhafte Kleider und minimalistische Tuniken. Am auffälligsten waren allerdings die flachen Schuhe, mit denen sie über den Laufsteg schritten – ein Trend, der sich während der gesamten Couture-Woche fortsetzen sollte und bei dem himmelhohe Absätze durch flache Ballettschuhe und ihre Zeitgenossen ersetzt wurden. Es mag dem alten "High-Heel-Index" widersprechen, der besagt, dass je schlechter die Konjunktur, desto höher der Absatz, doch im Herbst 2023 schien die Zweckmäßigkeit des Schuhwerks im Vordergrund zu stehen, selbst wenn die Schuhe mit riesigen Taft- und Spitzen-Ballkleidern kombiniert wurden, wie es bei Giambattista Valli der Fall war.
Prêt-à-porter oder Haute Couture?
Thom Browne sorgte bei seinem Couture-Debüt für Dramatik, doch die Choreographie der Show und das Storytelling waren deutlich aussagekräftiger als seine charakteristischen grauen Anzüge, die eher an seine Prêt-à-porter-Kollektionen erinnerten, die ihrerseits seit jeher einen Couture-Charakter haben. Vielleicht ist es genau dies, woran Giorgio Armani Anstoß nahm, als er der italienischen Zeitung La Repubblica sagte, dass es "immer schwieriger wird, zwischen Haute Couture und Prêt-à-Porter zu unterscheiden, da erstere immer normaler und letztere immer gehobener wird" - Grund genug für den Modeschöpfer, eine Rückkehr nach Mailand in Betracht zu ziehen, um seine Armani Privé-Kollektionen in den kommenden Saisons in seiner italienischen Heimat zu präsentieren.
Die Worte Armanis treffen zu, ebenso wie seine Kollektion hervorsticht. Ob es nun daran liegt, dass er weiterhin Couture im wahrsten Sinne des Wortes präsentiert – reich bestickte Abendgarderobe, für die die meisten Sterblichen nur schwer einen Anlass finden würden –oder daran, dass viele Designer:innen inzwischen die Bedeutung des Wortes neu definiert haben, bleibt für Interpretationen offen.
Die Models von Chanel flanierten an der Seine entlang und tauschten die historischen Hallen des üblichen Veranstaltungsort Grand Palais gegen die kopfsteingepflasterten Straßen von Paris. Die Designerin Virginie Viard präsentierte eine Kollektion, die sich wie eine idealisierte Version des französischen Stils anfühlte – Körbe, Blumen und Hunde ausführen inklusive. Eröffnet wurde die Show passenderweise von dem Model Caroline de Maigret, die vor einigen Jahren den Bestseller "How to be Parisian Wherever You Are" schrieb und fortan zahlreiche Frauen dazu inspirierte, einer Essenz nachzueifern. Die Kollektion bestand zum größten Teil aus Alltagskleidung, möglicherweise sehr zum Leidwesen von Armani, und selbst Chanels berühmte Braut trug ein wadenlanges Kleid, das durch seine Schlichtheit hervorstach.
Lässige Couture und Archiv-Stücke
Bei Balenciaga schien Demna zwei Meinungen über den aktuellen Stand der Couture zu haben, denn er kreierte sowohl das, was er laut New York Times als "lässige Couture" bezeichnete, als auch ein Replikat eines Archivsstücks von Cristobal Balenciaga, mit dem Demna die Show eröffnete. Getragen wurde dieses von Danielle Slavik, einem Model, das einst bereits für den ursprünglichen Maestro gearbeitet hatte. Es gab Schwarz in Hülle und Fülle, Abendgarderobe ebenso wie Streetwear – besonders auffällig waren ein doppelter Denim-Moment und ein roter Puffer – ein Kleid, das an Marilyn Monroes berühmtes, pinkfarbenes "Diamonds are a girl's best friend"-Ensemble erinnerte. Und dann gab es noch Kettenhemdkleider und eine 3D-bedruckte "Jeanne d'Arc"-Rüstung die von Künstlerin Eliza Douglas präsentiert wurde.
Kettenhemden und Rüstungen waren nicht nur bei Balenciaga zu sehen, sondern spielten auch eine Rolle beim Gastauftritt von Paco-Rabanne-Designer Julien Dossenas, der nach Olivier Rousteing und Haider Ackermann in dieser Saison an der Reihe war für Jean Paul Gaultier zu designen,nachdem sich dessen Namensgeber vor einigen Jahren aus der Couture zurückgezogen hat. Dossena, der seit einem Jahrzehnt an der Spitze des neu benannten Hauses Rabanne steht, huldigte sowohl Gaultier als auch Rabanne mit einem Kleid mit pointierten BH aus Gaultiers erster Kollektion von 1984. Allerdings rekreierte er es in Form eines silbernen Chainmail-Kleides. Es gab viele Anspielungen auf die Archive: blau-weiß gestreifte Marine-Kleider, ein überarbeitetes Naked Dress – mit falschem Schamhaar und allem Drum und Dran – sowie Nadelstreifenanzüge. Die Kollektion war die wohl üppigste der Saison, und das obwohl Valentino die modischen Gäste der Couture Woche in das Château de Chantilly einlud.
Die Show von Pierpaolo Piccioli für Valentino fasst in vielerlei Hinsicht die gesamte Couture-Woche zusammen. Der Designer entschied sich, seine Show mit einem Ensemble aus blauer Jeans, weißem Hemd und flachen Schuhen zu eröffnen. Dazu gab es Ohrringe, die man leicht mit den Kronleuchtern der Chateaus verwechseln könnte. Auf den ersten Blick ein starker Kontrast zu der pompösen Kulisse, doch die Hose entpuppte sich als Trompe-l'œil. Es handelte sich nicht um Denim, sondern um Seidenstoff, der mit Mikroperlen bestickt war, um dem Workwear-Look zu ähneln, etwas, das auch auf dem Laufsteg von Jean Paul Gaultier zu sehen war, obgleich Valentinos wesentlich mehr Aufmerksamkeit erregte. Picciolis Valentino Couture-Kollektion wirkte trotz all ihrer Pracht lässig, sei es durch die Haltung der Models und ihre auffallend flachen Schuhe oder die lockere Passform der kristallbestickten Hosen. Die Kollektion vereinte beides – Schlichtheit und Opulenz – in der vielleicht modernsten Interpretation der zeitgenössischen Couture dieser Saison. Eine, die dem italienischen Designer eine stehende Ovation einbrachte, als er sich mit seinem Atelier im Schlepptau verneigte.
Haute Couture ist an sich ein Genuss, ein ferner Traum für die meisten und eine Realität für nur wenige – und so ist es vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass die meisten Designer:innen es vorzogen, die aktuelle Realität in Paris zu ignorieren und sich weiterhin der Fantasie hinzugeben, auch wenn diese für Herbst 2023 trügerisch realistisch schien. Während Marie Antoinette während der Französischen Revolution dem französischen Volk den Verzehr von Kuchen empfohlen haben soll, wird diese Revolution offenbar nicht durch delikate Süßigkeiten, sondern von hoher Schneiderkunst in der Optik von Alltagskleidung angeheizt.