Rückbesinnung, Relevanz und Realität auf der Haute Couture Woche in Paris
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In vielerlei Hinsicht war die Haute Couture für Herbst/Winter 2024 von Abwesenheiten geprägt. So fehlten für gewöhnlich allgegenwärtige Marken wie Valentino und Fendi, die Präsenz einer Kreativen Leitung bei Chanel und, was vielleicht am meisten überraschte, fehlten auch zahlreichen medienwirksamen Stunts, die in der vergangenen Saisons die Handwerkskunst, für die Couture einst stand, häufig überschatteten.
Ein Hauch von Realität zog bereits im Januar auf die Laufstege der Pariser Haute Couture Woche ein, doch nun, wenige Tage vor einer durch Präsident Emmanuel Macron angestoßenen Auflösung des Parlaments ausgelöste Blitzwahl und inmitten der letzten Vorbereitungen für die bevorstehenden Olympischen Spiele, übten sich die meisten Modeschöpfer:innen in Zurückhaltung. Zugegeben, im Rahmen der Couture Woche nimmt der Begriff der Zurückhaltung eine neue, vergoldete und schillernde Form an. Zugleich schien sich die hohe Schneiderkunst jedoch auf ihre einstigen Wurzeln zurück zu besinnen – auch wenn die Frage im Raum steht, ob diese noch zeitgemäß ist.
Neue Perspektiven und alte Meister:innen
Erste Anzeichen einer Rückbesinnung auf eine Zeit, in der die Couture eine intime Angelegenheit war, die den begehrtesten Kund:innen der Modehäuser vorbehalten war, waren bereits bei Schiaparelli zu sehen. Der Designer Daniel Roseberry, dessen Kollektion für das französische Modehaus die Saison eröffnete, verzichtete ausnahmsweise auf Gimmicks und lenkte die Aufmerksamkeit stattdessen auf seine unangefochtene Kunstfertigkeit und das Erbe des Hauses.
Roseberrys HW24-Kollektion war weit entfernt von den Roboterbabys oder den lebensgroßen Tierköpfen früherer Kollektionen. Stattdessen beschwor sie die Dualität von Tschaikowskis berühmtem ‚Schwanensee‘ herauf. Der Modeschöpfer ließ sich von einem gefederten Look inspirieren, den die Gründerin des Modehauses in den 40er-Jahren trug. Dieser ursprüngliche Entwurf galt seinerzeit als Hommage an die Ballerina Anna Pawlowa und ihren legendären Part in ‚Der sterbende Schwan’. Fast 90 Jahre später ging Roseberry nun noch einen Schritt weiter und zollte sowohl dem ‚Schwan‘ als auch dem ‚Phönix’ – wie er Schiaparelli und ihre unermüdliche Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden, in seinen Shownotes beschrieb – Tribut.
Optisch wurde das Konzept in 31 Silhouetten umgesetzt, unter denen ein schwarzer Samtumhang mit Chromstickerei, ein Kleid mit durchscheinendem Oberteil und eine schwarze Smokinghose mit einem gefiederten weißen Oberteil besonders hervorstechen. Zur Krönung des Ganzen wurde die Kollektion in Dunkelheit getaucht, da der Laufsteg nur spärlich beleuchtet war, während die Models die Kleidungsstücke langsam zur Schau stellten, sodass die Zuschauer:innen reichlich Zeit hatten, all die exquisiten Details der Darbietung zu bewundern.
Während Roseberry mit vorher ungeahnter Enthaltsamkeit überraschte, kam die große Überraschung bei Chanel nicht während der Couture Week, sondern kurz vorher, als das Haus ankündigte, dass Kreativdirektorin Virginie Viard es ohne eine abschließende Darbietung verlassen würde. Stattdessen wurde die dramatische und entschieden Lagerfeldeske Herbst/Winter-Couture-Kollektion von dem entworfen, was in der Pressemitteilung als ‚Fashion Creation Studio' bezeichnet wurde.
Die im Palais Garnier präsentierte Kollektion wurde nicht vom Geist des berühmten Phantoms heimgesucht, das in der Oper leben soll, sondern vom verstorbenen Kreativdirektor der Marke, Karl Lagerfeld. Hohe Rüschenkragen, dramatische Capes, Federn, Strick, Taft trafen auf vergleichsweise nüchterne und vernünftige Tweedanzüge mit Faltenröckchen und Kleider. Während ein Teil der Kollektion ausgesprochen extravagant wirkte, erinnerten andere zumindest optisch an das übliche Konfektionsangebot der Marke.
Es war eine Kollektion, die vielleicht die Frage nach der Grenze und der Relevanz von Couture in der heutigen Zeit aufkommen ließ, etwas, das Creative Director Demna Gvasalia bei seiner Couture Show für Balenciaga offen hinter den Kulissen ansprach.
„Niemand benötigt wirklich Couture, um ehrlich zu sein“, erklärte der Designer gegenüber mehreren Nachrichtenmedien nach seiner Show. Und während sich die Aussage hauptsächlich auf sein wahrscheinlich bald berühmt-berüchtigtes ‚verschwindendes‘ Couture-Kleid bezog, ein Kleidungsstück aus 47 Metern schwarzem Nylon, das einfach über den Körper eines Models drapiert wurde, wirft auch der Rest seiner Kollektion Fragen auf.
2021 führte Gvasalia erneut Haute Couture bei der Traditionsmarke ein, und während er den architektonischen Codes des Markengründers Cristóbal Balenciaga mehrere Saisons lang treu blieb, schlich sich im Herbst/Winter 2024 eine fast unübersehbare Dosis Streetwear in das Haute Couture-Angebot ein. In mancherlei Hinsicht ähnelte seine jüngste Kollektion dem, wofür die Fans des Designers ihn seit jeher kennen – Spuren seiner Gründungstage bei Vetements inbegriffen. Ähnlich wie bei Chanel verschwammen auch bei Balenciaga die Grenzen der für Couture essenziellen Handwerkskunst und der Konfektionsware – zumindest visuelll.
Für seine vierte Couture-Kollektion überraschte Gvasalia, der den Status quo von Mode und Luxus immer wieder hinterfragt, mit einer Kollektion voller Upcycling-Sweatshirts und Fußballtrikots, die zu Ballkleidern umfunktioniert wurden. Zudem präsentierte er Abendroben aus Plastiktüten, Upcycling-Sweatshirts, Fußballtrikots und Jeansjacken, wobei er in gewisser Weise den Silhouetten treu blieb, mit denen Balenciaga einst seine Couture-Klientel begeistert hatte. In vielerlei Hinsicht fordern die Stücke letztlich dazu auf, ihren Wert und den Wert von Couture zu überdenken – etwas, das inmitten von Inflation, Krisen und Krieg vielleicht die zeitgemäßeste Botschaft ist, die Gvasalia seit Langem formuliert hat.
Hat die Zukunft der Couture einen Namen?
Nicolas di Felice, der in diesem Jahr als Gastdesigner das Ruder der Couture-Kollektion von Jean Paul Gaultier übernahm, zeigte, dass Couture in den richtigen Händen eine bis dato verborgene Seite einer Marke und eines Modeschöpfers zum Vorschein bringen kann. Der Designer, der derzeit als Kreativdirektor an der Spitze des französischen Modehauses Courrèges steht, hat mit dieser Kollektion seinen ersten Ausflug in die Couture gemacht. Doch bereits jetzt wird darüber spekuliert, ob dieser Moment vielleicht der Beginn seiner Amtszeit an der Spitze eines Couture-Hauses bedeuten könnte; schließlich suchen einige derzeit nach neuen Kreativdirektor:innen.
Unabhängig von den zukünftigen Möglichkeiten präsentierte Di Felice im Hier und Jetzt eine Jean Paul Gaultier Couture-Kollektion, die sich stark von dem Unterschied, was die meisten Gastdesigner:innen bisher gezeigt haben. Kegel-BHs und Matrosen-Streifen, die unverkennbaren Markenzeichen von Gaultier, waren kaum zu sehen und machten stattdessen Platz für die minimalistische Variante des Erbes des Designers, die man sich vorstellen kann. Korsetts und viele Haken- und Ösenverschlüsse verwiesen auf den Meister des Korsetts, während die verführerische, durchsichtige und höchst raffinierte Interpretation die klare Handschrift dessen trägt, was die Fans von Di Felice kennen und lieben.
Es war eine kluge Entscheidung und zweifellos genau das, was Gaultier beabsichtigt hatte, als er von seinem Posten zurücktrat und den Weg für junge Talente frei machte, die sich an der Haute Couture versuchen wollten. Denn als der 40-jährige Di Felice sich am Ende des Laufstegs verbeugte, gab es keinen Zweifel mehr daran, dass er – und wahrscheinlich auch viele andere ‚Nachwuchstalente’ – der Haute Couture frischen Wind und Relevanz verleihen könnten.