Nach John Gallianos Abschied von Margiela: Wie geht es für den umstrittensten Träumer der Modebranche weiter?
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John Galliano ist vieles, aber subtil ist er noch nie gewesen. Daher überrascht es kaum, dass der Abschied des Designers von Maison Margiela – nach einem Jahrzehnt an der Spitze der zum Mutterkonzerns OTB Group gehörenden Marke – in der Modebranche Wellen geschlagen hat, obwohl die Gerüchte zu seinem bevorstehenden Rücktritt schon seit einiger Zeit lauter werden. Doch Galliano ließ es sich nicht nehmen, mit einem Paukenschlag zu gehen – in diesem Fall in Form eines zweiseitigen Briefes, der an eine Novelle erinnert, veröffentlichte er seine Worte auf Instagram – nur kurz nachdem das Modehaus seinen Rücktritt am Mittwochabend in einer gemeinsamen Erklärung bestätigt hatte.
Das Ende von Gallianos Zeit bei Margiela scheint, obgleich er weiterhin für seine Vergangenheit „büße“, auch das ultimative Ende seiner erfolgreichen Rehabilitation zu markieren. Es wirkt, als hätte die Modewelt entschieden, seine früheren Verfehlungen zu vergeben. Für jene, die zu jung sind, um sich zu erinnern, oder die sich entschieden haben, es zu vergessen: Der berüchtigte „Galliano-Vorfall“ von 2011 drehte sich um ein Video, in dem der Designer – damals Kreativdirektor von Dior und als eines der exzentrischsten und genialsten Talente der Branche bekannt – in einer Pariser Bar antisemitische Tiraden gegenüber Gästen von sich gab. Die Folgen waren drastisch: Innerhalb weniger Tage wurde Galliano, trotz seines kommerziellen und künstlerischen Erfolgs bei Dior, aus dem französischen Luxusmodehaus entlassen und von der Branche weitgehend verstoßen.
Es folgten ein Aufenthalt in der Entzugsklinik, eine Zeit bei jüdischen Rechtsgruppen und ein gescheiterter Versuch, 2013 als Dozent an der New Yorker Parson's School of Design zu arbeiten, nachdem eine Petition auf Change.org gegen Gallianos Lehrtätigkeit an der Schule mehr als 2.100 Unterstützer:innen gefunden hatte. Aber war die Mode wirklich bereit, ein solches Talent wie Galliano auf der Strecke bleiben zu lassen? Nicht ganz, wie es schien, und so wagte sich 2014 der CEO von OTB, Renzo Rosso, an den in Ungnade gefallenen Kreativen heran; damit begann der zweite Akt seiner Karriere.
Der Weg zur Wiedergutmachung
Gallianos erster Akt – geprägt von seiner Abschlusskollektion 'Les Incroyables' am Central Saint Martins College, die sofort vom Londoner Kaufhaus Browns übernommen wurde, ein kurzer Stop bei Givenchy und seine legendäre Zeit bei Dior – war ebenso sehr von seiner Persönlichkeit wie von seinen Kreationen geprägt. Als Mad Hatter, Showman und 'Enfant Terrible' – ein Titel, den er sich mit seinem zeitgenössischen Rivalen und ebenfalls zerrissenen Geist Alexander McQueen teilte – verband Galliano wie kaum ein anderer frenetische Kreativität mit kommerziellem Erfolg.
Während sich sein kommerzieller Erfolg auch bei Margiela fortsetzte – laut WWD stieg der Jahresumsatz von Margiela während seiner Amtszeit von etwa 100 Millionen auf 500 Millionen Euro – trat seine Persönlichkeit bei Margiela jedoch in den Hintergrund. Ähnlich wie Martin Margiela, der bekanntlich nie sein Gesicht zeigte und die Presse mied, ließ Galliano seine Kreationen und sein Talent für sich sprechen. Plötzlich verzichtete er auf den traditionellen Schlussapplaus nach seinen Shows und hielt sich auch medientechnisch bedeckt, zumindest in den frühen Jahren.
Stattdessen ließ Galliano seine Kreationen und sein Talent für sich sprechen und lieferte der Branche eine unbestreitbare und unumstößliche Erkenntnis: Er ist und bleibt einer der fruchtbarsten Kreativen, die die Modewelt je gesehen hat – ungeachtet etwaiger Skandale. Es ist eine Erkenntnis, die Galliano selbst am meisten zu berühren scheint, wenn er über sein Jahrzehnt bei Margiela nachdenkt und Rosso dafür dankt, dass er die Möglichkeit hatte, seine “kreative Stimme wiederzufinden”, als er stimmlos geworden war. „Meine Flügel wurden wieder gesund, und ich verstand den alles verzehrenden Akt der Kreativität besser“, so Galliano in dem Statement.
Und allumfassend war seine Kreativität während seiner Zeit bei Margiela. Falls Galliano jemals Zweifel hatte, ob er der Herausforderung von Margiela gewachsen sei – wie sein Brief vermuten lässt – so waren solche Zweifel in seiner Arbeit nicht sichtbar. Von Anfang an schien der Designer ebenso engagiert wie souverän in seinen kreativen Fähigkeiten, wobei er pompöse Shows, die spektakulärer Romantik und kultureller Erkundung gewidmet waren, gegen eine Erkundung von Margielas Vorliebe für Dekonstruktion und unkonventionelle Materialien eintauschte.
Es dauerte nicht lange, bis Galliano aus dem Schatten des beliebten Gründers des Hauses heraus trat – eine Herausforderung, an der die meisten anderen Designer:innen wohl gescheitert wären. Doch es benötigte einige Zeit, bis seine ungebremste Extravaganz wieder in den Vordergrund der Mode trat.
Dieses letzte Quäntchen Zurückhaltung schien im Januar zu schwinden, als er nicht nur eine Kollektion, sondern eine Show präsentierte, die in vielerlei Hinsicht eine wahre Rückkehr zur Form für den gefallenen Träumer der Mode darstellte. Ob Galliano damals schon wusste, dass seine Frühjahrskollektion 2024 sein Abschiedsgruß an Margiela sein würde, ist unklar. Dennoch war es ein letzter großer Akt, der seine einzigartige kreative Stimme zur Geltung brachte, indem er die Gäste in ein Gewölbe unter der Pariser Brücke Pont Alexandre III einlud. Dort beschwor er die Illusion eines verfallenden Nachtclubs herauf und weckte schon vor Beginn der Show Erinnerungen an seine glorreichen Tage bei Dior.
Als es dann losging, wurde der Laufsteg abermals zu seiner Bühne, mit Models, die seine romantischen, provokanten und oft historisch inspirierten Visionen zum Leben erweckten. Es war die Art von Show, die dazu bestimmt ist, auf Moodboards verewigt und in Modeschulen für die kommenden Jahre zitiert zu werden. Nur dieses Mal könnte die Anziehungskraft noch größer sein, da es keine Fortsetzung dieser triumphalen Schau geben wird – zumindest nicht bei Margiela.
Und so beginnen die Spekulationen…
Das vergangene Jahr hat Galliano rückblickend ein spektakuläres drittes Kapitel seiner Karriere auf den Weg gebracht. Kreativ hat er bewiesen, dass er seinen Zenit noch nicht hinter sich, sondern vielleicht noch vor sich hat. Gleichzeitig war „High & Low: John Galliano“, der lang erwartete Dokumentarfilm über den Designer unter der Regie von Kevin Macdonald, der Anfang dieses Jahres veröffentlicht wurde, ein weiterer Versuch, für die Fehler seiner Vergangenheit zu büßen.
In dem Film reflektierte der Designer über seine diskriminierenden Äußerungen, seinen Ausschluss aus der Branche und gewährte dem Publikum vielleicht zum ersten Mal einen umfassenden Einblick in seine Psyche - einschließlich seiner Probleme mit Alkohol und Drogen. Auch wenn nicht jede:r die Auseinandersetzung mit seinen vergangenen Äußerungen für ausreichend hielt, war dies ein klares Zeichen dafür, dass Galliano nicht nur bereit war, über seine Fehler zu sprechen, sondern sie auch hinter sich zu lassen. Das verdeutlichte nicht zuletzt auch sein Statement, in dem er erstmals verriet, dass er seit 14 Jahren nüchtern ist - auf den Tag genau, denn der Jahrestag seiner Abstinenz fiel mit seinem Ausstieg bei Margiela zusammen.
Alles deutet auf einen Neuanfang hin, nachdem der Designer, wie er sagte, gelernt hat, sich zu verzeihen, dass er „das Klischee aufrechterhalten hat, dass Kreativität durch Alkohol und Drogen angeheizt werden muss“. Mit seinem Team bei Margiela hat er, wie er sagt, „bewiesen, dass Kreativität nie aus der Mode ist. Sie wird nicht von diesen zerstörerischen Kräften angetrieben, sondern von einer kreativen Gemeinschaft, die sich um Design kümmert und es berücksichtigt.“ Aber wo gibt es diese Gemeinschaften, und wohin könnte ihn das nächste Kapitel seiner Karriere führen, nachdem er nun kreativ und sozial rehabilitiert ist?
Das ultimative Ende seiner modischen Rehabilitierung wäre zweifelsohne die Gerüchte um eine Rückkehr zu Dior. Der Gedanke, dass Galliano, der verstoßene Sohn, zu dem Haus zurückkehrt, das seinen Status in der Modewelt zementiert hat und gleichzeitig Teil seines Niedergangs war - als er 2011 von Dior und seiner gleichnamigen Marke entlassen wurde, leitete er 32 Kollektionen pro Jahr -, wäre unbestreitbar poetisch. Während seine Rückkehr zu Dior eine Theorie ist, die von der Modefachzeitschrift Miss Tweed favorisiert wird, haben andere Publikationen wie FashionNetwork fleißig Insider:innen zitiert, die angeblich von seinem Wechsel zu Fendi gehört haben, wo ein:e Nachfolger:in für Kreativdirektor Kim Jones noch nicht benannt wurde. Aber es gibt noch viele andere Luxusmodehäuser, die derzeit auf der Suche nach Designer:innen sind, so dass die Möglichkeiten nahezu unbegrenzt scheinen.
Glaubt man den Reaktionen in den Kommentaren zu Gallianos Ankündigungspost, dann führen alle zukünftigen Wege des Designers zu Chanel. Ein Modehaus, das eine Prise Theatralik und ein bisschen Magie gebrauchen könnte - ganz zu schweigen davon, dass es sich um ein Couture-Haus handelt. Galliano könnte weiterhin Techniken neu erfinden und einführen, wie er es bei Margiela getan hat. Außerdem hat er schon einmal bewiesen, dass ihn ein drohendes Erbe, wie es bei Karl Lagerfelds allgegenwärtiger Energie bei Chanel zweifellos noch der Fall wäre, nicht abschreckt. Das ist jedoch reine Spekulation, ebenso wie die Gerüchte, dass Hedi Slimane, Simone Porte Jacquemus oder Matthieu Blazy die nächsten Anwärter auf den Thron des renommierten französischen Modehauses sein könnten.
Galliano selbst schien sich der Gerüchteküche, die sein Weggang von Margiela anheizen würde, durchaus bewusst zu sein, und wenn man zwischen den Zeilen liest, scheint er sich fast ein wenig darüber zu amüsieren, wenn er schreibt: „Die Gerüchte... Jeder will es wissen, und jeder will träumen. Wenn die Zeit reif ist, wird alles enthüllt werden.“