Cascale Meeting: Nachhaltige Transformation braucht einen langen Atem
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Rund 600 Verantwortliche für gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen im Sinne eines nachhaltigen Wirtschaftens aus der globalen Textilindustrie (CSR) kamen zum jährlichen Mitglieder Meeting von Cascale nach München. Vertreter:innen vieler großer Brands und Händler:innen – von LVMH über Zalando und Marks & Spencer bis hin zu Walmart – saßen auf dem Podium und im Publikum, um sich über Fortschritte und Herausforderungen auf dem Weg zur nachhaltigen Transformation auszutauschen. Wem Cascale nichts sagt, kennt das Unternehmen vielleicht noch unter dem Namen Sustainable Apparel Coalition (SAC), wie es bis Februar dieses Jahres hieß.
Vor genau 15 Jahren von Patagonia und Walmart als global ausgerichtete Nachhaltigkeitsinitiative der Bekleidungsindustrie ins Leben gerufen, war die SAC Erfinder des berühmten Higg Index, eines digitalen Tools, das zum ersten Mal überhaupt die Mammutaufgabe anging, die Umweltauswirkungen der Textilproduktion in der globalen Wertschöpfungskette zu messen, um auf Basis dieser Daten Verbesserungen beim Ressourcenverbrauch herbeiführen zu können.
Gemeinsam mit der SAC – beziehungsweise mit Cascale – haben sich seither Hunderte von Brands und Händler:innen der Bekleidungsindustrie auf den Weg gemacht, um mehr Licht in ihre weit verzweigten globalen Lieferketten zu bringen und um Verantwortung für den ökologischen und sozialen Fußabdruck ihrer Produkte zu übernehmen. Dazu hat die Organisation über die Jahre hinweg den Higg Index kontinuierlich weiterentwickelt und noch weitere digitale Tools geschaffen.
Wo steht die Branche nach all den Jahren? Wie erfolgreich waren all die Nachhaltigkeitsteams bisher, wie viel Transparenz haben die Marken in ihren Lieferketten erreicht, können die gesteckten Klimaziele erreicht werden und wie geht es den Verantwortlichen damit? Ein Besuch der Casale-Veranstaltung in München zeigt, dass die Branche beim Thema CSR schon große Schritte gemacht hat, aber noch einen langen Atem braucht.
Brands kennen meist nur direkte Lieferant:innen
„Insgesamt kann man sagen, dass die meisten Unternehmen überwiegend nur ihre direkten Lieferanten kennen, das sind dann in der Regel die Nähereien“, sagt Philipp Mayer, Mitgründer der Traceability-Plattform Retraced während der Tagung. „Woher Stoffe und Zutaten kommen, wissen viele noch nicht.“ Diese direkten Zulieferer:innen bezeichnet man im CSR-Sprech als „Tier-1-Unternehmen“ oder Unternehmen der ersten Ebene. Die nächste Ebene entlang der Lieferant:innenpyramide sind Stoffhersteller:innen und Zutatenlieferant:innen (Tier-2), gefolgt von Spinnereien (Tier-3) und Rohstofflieferant:innen (Tier-4). Der größte Fußabdruck eines textilen Produkts entsteht aber nicht auf der Ebene Tier-1, also in den Nähereien, sondern darunter, in den Bereichen der Stoff- und Garnherstellung sowie der Rohstoffgewinnung. Bis dorthin ist die Digitalisierung der Lieferkette und der Datenaustausch meist noch nicht vorgedrungen. Unternehmen fangen jetzt erst damit an. Susan Scow beispielsweise, immerhin CSR-Managerin bei der nachhaltig ausgerichteten US-Modemarke Eileen Fisher, rechnet damit, dass sie in den nächsten fünf Jahren so weit sein wird, auch Tier-2- und Tier-3-Daten zu erheben.
Datenmanagement der Lieferkette ist zeitaufwändig
Trotz hilfreicher Tools ist das Sammeln von Informationen aus der Lieferkette oft noch enorm zeitaufwändig – sowohl für die Marken, die die Daten sammeln, als auch für die Zulieferer:innen, die sie zur Verfügung stellen müssen. So berichtet ein Lieferant aus Pakistan auf dem Podium, dass er pro Bestellung bis zu 15 Tage braucht, um alle Daten zusammenzutragen. Gleiches gilt für die Audits: „Die Zulieferer sind frustriert. Ich kenne Fabriken, die werden bis zu 200-mal im Jahr auditiert. Das macht keinen Sinn“, sagt Colin Browne, CEO von Cascale. „Wir brauchen die richtige Balance zwischen Reporting und Vorantreiben.“
Ein Luxuskonzern wie die LVMH Group, zu dem 75 Marken unterschiedlichster Branchen gehören, von Mode über Uhren bis hin zum Weingut, hat im letzten Jahr über 2.000 Audits in der ganzen Gruppe durchgeführt. Gleichzeitig besteht die zentrale CSR-Abteilung der Gruppe nur aus drei Personen, verrät Caroline Markiton, Supplier Sustainability Senior Manager bei LVMH im Gespräch mit Worldly – plus weiterer CSR-Verantwortlicher innerhalb der Brands.
So stoßen auch Marken bei der Datenerhebung leicht an ihre Kapazitätsgrenzen. Erst recht, weil einige große Marken bereits kommunizieren, dass sie Millionen von Artikeln zurückverfolgen. Viele kleinere Marken glauben deshalb, dass sie das auch können müssen. „Dabei ist vielen gar nicht bewusst, was es bedeutet, all diese Daten wirklich auf Produkt – beziehungsweise Bestellebene zu sammeln – vor allem für ihre Lieferant:innen“, sagt Philipp Mayer von Retraced. Statt einfach drauflos zu sammeln, rät er, sich zunächst zu fragen, was man mit den Daten genau anfangen will. So zeigen die Daten beispielsweise schon auf der Ebene Tier-1, welche Energieformen Lieferanten nutzen. Basiert die Energiegewinnung etwa auf Kohle, könnten Brands dort ansetzen und eine Umstellung auf Erneuerbare Energien anstoßen. Daten einfach nur zum Selbstzweck zu sammeln macht jedoch keinen Sinn, besonders dann nicht, wenn das pure Datensammeln vom eigentlichen Ziel ablenkt, nämlich auf Basis der Daten Verbesserungen anzugehen.
KI-gestützte Datengenerierung soll helfen, den Wandel zu beschleunigen
Gleichzeitig ist es wichtig, möglichst bald auch Tier 2 bis 4 anzugehen, weil dort der größte Hebel ist für einen nachhaltigen Wandel. „Wenn wir 2030 unsere Nachhaltigkeitsziele erreichen wollen, müssen wir die Daten haben, und wir müssen sie nutzen!“ sagt Adele Stafford, Executive Vice President of Growth bei Worldly. Worldly ist ein Technologieunternehmen, dessen Datenplattform für den Higg Index entwickelt wurde. Worldly hat mit dem ‚Product Impact Calculator‘ ein neues Tool entwickelt, das diese Daten aus der Vorstufe nicht nur leichter und übersichtlicher generiert, es liefert auch gleich Vorschläge zu möglichen Maßnahmen, die angestoßen werden sollten. Zudem verkürzt es die Frequenz der Datenerhebung. Während bislang nur einmal im Jahr Daten erhoben werden, soll das mittels Automatisierung und KI künftig häufiger möglich sein. „Nur so kann man schnell Ergebnisse sehen und vorankommen“, erklärt Stafford.
Der Londoner Modehändler Marks & Spencer denkt darüber nach, künftig womöglich nur noch über digitale Tools mit seinen Lieferant:innen zusammenarbeiten und die Beauftragung von Audits zu beenden. „Wir gehen dazu über, die Auditierungen wieder in die Hände der Betriebe zu legen“, sagt Fiona Sandler, Global Head of Responsible Sourcing bei M&S. „Wir verstehen uns nicht als die Polizei unserer Zuliefer:innenbetriebe. Es geht um gegenseitigen Respekt und um eine Beziehung auf Augenhöhe.“ Gerade startet ein Pilotprojekt mit mehreren Zulieferern.
Cascale will die weltweit größten Fabriken direkt angehen
Auch Cascale will schneller werden. Eine neue Analyse von Reset Carbon, einem Partner von Cascale, die Daten aus dem Higg Index von Cascale verwendet, zeigt, dass 1.500 Produktionsstätten in neun Ländern für 80 Prozent der Kohlenstoffemissionen der Textil- und Bekleidungsindustrie verantwortlich sind. „Die Realität ist, dass die Konsumgüterindustrie nicht genug tut, um den Klimawandel zu bekämpfen. Da die neuen Daten eine starke Konzentration der Klimaauswirkungen zeigen, müssen wir Maßnahmen dort ergreifen, wo sie am nötigsten sind. Wir müssen uns auf die Hotspots der strategischen Zulieferer:innen der Industrie konzentrieren. Es gibt keinen Weg, unser Reduktionsziel von 45 Prozent zu erreichen, ohne diese 1.500 Betriebe einzubeziehen“, erkläret CEO Colin Browne. Um schneller voranzukommen, will Cascale künftig auch den direkten Kontakt zu den Produktionsstätten suchen und neue Finanzierungsmodelle angehen. Bisher liefen alle Initiativen vor allem über den „Umweg“ der Mitglieder, die mit ihren Zulieferern an der Verbesserung des ökologischen Fußabdrucks arbeiteten.
Auch im eigenen Mitgliedsprogramm will Cascale künftig mehr Druck machen: Zu den Mitgliedschaftsanforderungen von Cascale gehört nun, dass Unternehmensmitglieder dem Dekarbonisierungsprogramm der Organisation beitreten und wissenschaftsbasierte Ziele (SBTs) oder wissenschaftsorientierte Ziele (SATs) festlegen müssen. Im Jahr 2023 hatten 59,7 Prozent der Cascale-Unternehmensmitglieder entweder SBTs oder SATs festgelegt oder mit dem Prozess der Festlegung begonnen – ein Anstieg von 28,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Einbeziehung weiterer Branchen
Im Bereich Traceability gilt die Modebranche inzwischen als führend. Keine andere Branche hat sich in den letzten Jahren so sehr um Transparenz und Rückverfolgbarkeit bemüht. Die digitalen Tools, die hierfür entwickelt wurden, können nun auch für weitere Branchen genutzt werden. Allen voran für Hardgoods, die von Mode- und Sporthersteller:innen ohnehin vertrieben werden.
Katy Stevens, Head of CSR & Sustainability bei der European Outdoor Group, erklärt, dass die Outdoor Branche ja nur zum Teil aus Bekleidung besteht. „Der Rest sind Footwear und Hardgoods. Deshalb brauchen wir ein Tool, das wir für alle Bereiche nutzen können.“ Zwar könne man die Tools aus der Mode hier auch mit entsprechenden Anpassungen nutzen, doch das Mindset anderer Branchen sei oft noch nicht so weit. „Metallfirmen für Karabiner oder andere Geräte mussten diese Daten noch nie erheben, viele verstehen nicht, warum wir das tun wollen“, so Stevens. „Bei der Mode hat die Öffentlichkeit aus vielen guten Gründen über Jahre hinweg mit dem Finger auf die Missstände gezeigt, das gab es in anderen Branchen nicht“, sagt auch Jonathan Salmon, Head of Sustainability bei Li & Fung. In diesen Branchen müsse man daher erstmal Überzeugungsarbeit leisten.
Aufruf weiter dran zu bleiben
Während das Thema Nachhaltigkeit in den letzten Jahren boomte und zumindest in der Kommunikation vieler Brands enorm wichtig war, scheint sich gerade eine gewisse Nachhaltigkeits-Müdigkeit breit zu machen. „Es breitet sich Müdigkeit aus, man hat das Gefühl, man rollt den Stein immer wieder aufs Neue den Berg rauf“, beschreibt Adele Stafford von Worldly die aktuelle Situation in vielen CSR-Teams. „Vor der Veränderung liegt immer eine lange Phase der Frustration. Change Management ist harte Arbeit. Manche Leute wollen nicht zuhören und ihre Routinen ändern“, sagt auch Pia Heidenmark Cook, die viele Jahre als Chief Sustainability Managerin bei Ikea tätig war.
Die aktuelle wirtschaftliche Situation in der Modebranche trägt zusätzlich dazu bei, dass wichtige Maßnahmen weiter aufgeschoben werden. Doch anders als noch vor einigen Jahren stehen heute die Instrumente zur Verfügung, um Veränderungen herbeizuführen. „Wir können es besser machen. Wir wissen, wie es geht. Die Frage ist nur: Haben wir den Mut? Haben wir das Commitment im Unternehmen, und haben wir die Kapazität“, fragt der Casale-CEO Colin Browne ins Publikum und appelliert an die Zuhörenden, jetzt nicht nachzulassen.