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Erdrückt der Berufseinstieg das zuvor an Modeschulen gelernte kritische Denken?

Von Jackie Mallon

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Business|KOMMENTAR
Bild: Jomsy Fashion

Nicht selten haftet das Etikett “die Zukunft der Mode” an Studierenden. Mit diesem bedeutungsschweren Ausdruck wird ihnen neben Vertrauen auch die enorme Last auf die Schultern gelegt, die unzähligen Probleme der Branche zu lösen.

Während der kurzen, aber umso intensiveren Jahre in der höheren Bildung, werden die Studierenden dafür sensibilisiert, bestehende Systeme zu hinterfragen und deren Unzulänglichkeiten aufzudecken. Der Alltag wird durch einen Rausch an Kreativität und Abgabefristen bestimmt, unter Anleitung von Professor:innen, die früher in der Branche tätig waren, oder es immer noch sind. In der Zeit außerhalb des Vorlesungssaals absolvieren sie Praktika, bei denen sie zwar Einblicke in die Arbeitsweisen von Unternehmen erhalten, jedoch nur selten mit realen Kontexten und spürbarer Verantwortung in Berührung kommen.

Die Studierenden haben zu diesem Zeitpunkt keinerlei Vorbehalte, Bedingungen oder Ansprüche – Variablen wie traditionelle Arbeitsmethoden, Gewinnspannen oder Aktionäre spielen noch keine Rolle in ihren Arbeitsweisen. Kurzum: sie wurden noch nicht mit der Realität des Arbeitsalltags in der Modebranche konfrontiert.

Trotz allem, werden viele der Studierenden nach ihrem Abschluss zu den Rädern, die die Maschinerie vorantreiben, die sie in den drei bis vier Jahren zuvor zu kritisieren gelernt haben. Es stellt sich die Frage, woher dieses Paradox rührt – ob die Schulen ihre Studenten nicht ausreichend auf die Industrie vorbereiten, oder ob die Industrie selber das kritische Denken ihrer eigenen neuen Talente unterdrückt.

Josh Williams, Assistenzprofessor für Modemanagement an der Parsons School of Design, sagt, dass junge Leute, die heute ein Modestudium beginnen, die Welt um sie herum bewusster wahrnehmen als je zuvor und dass sie sehr sensibilisiert sind gegenüber der Notwendigkeit für Veränderung – insbesondere im Bezug auf Nachhaltigkeit, Diversität, Gleichstellung und Inklusion. Doch während sich die Schulen auf kritisches Denken konzentrieren, muss dieses mit einem Verständnis für das komplexe System der Mode und die Bedürfnisse der vielen Beteiligten, oder “Stakeholder” wie Williams sie nennt, verknüpft werden.

Stakeholder ist dabei ein interessantes Wort, das tiefer blicken lässt. Es betont die geschäftliche und finanzielle Seite der Dinge – und das allgemeine Risiko. Dieses Risiko wird ebenfalls von Anja Cronberg, Gründerin und Chefredakteurin von Vestoj und Forschungs-Stipendiatin am London College of Fashion, vermerkt, als sie mit FashionUnited über die fehlende Verbindung zwischen der akademischen Welt und der Industrie spricht: „Wenn Sie in der Hierarchie eines Unternehmens ganz oben stehen, ist das, was für Sie auf dem Spiel steht, etwas ganz anderes als wenn Sie als Hochschulabsolvent:in ihre ersten Schritte machen und versuchen herauszufinden, wo Sie hingehören. Solange wir nicht wirklich versuchen zu verstehen, was auf dem Spiel steht, ist das alles nur Theorie.”

Zwischen akademischen Idealen und der Realität der Industrie

Wie die Theorie in die Praxis umgesetzt werden kann, ist für Berufseinsteiger:innen nicht eindeutig ersichtlich, denn was für den Einzelnen, die Hochschulen oder das Unternehmen auf dem Spiel steht, ist relativ. Viele Lehrkräfte beklagen zudem, dass nicht genug Zeit zur Verfügung steht, um alle am Arbeitsplatz benötigten Fähigkeiten zu vermitteln. Manchmal sind sie sich nicht einmal einig, welche Fähigkeiten vorrangig behandelt werden sollten. Cronberg ist jedoch der Ansicht, dass die Erfahrung der Studenten letztlich eine "freie Zone" sein sollte, die genau dafür geschaffen wurde, den Status quo in Frage zu stellen und sich eine andere Welt vorzustellen und zu überlegen, wie sie diese gestalten könnten. Nach dem Abschluss gibt es dann eine Lernkurve.

„Wenn man in ein Unternehmen kommt, ist man in der Hierarchie ganz unten. Wenn man in diesem System aufsteigen will, begreift man recht schnell, was man sagen kann, wann man es sagen kann und wie man sich über Wasser halten kann. Und sich über Wasser zu halten, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit das Wichtigste”, sagt sie.

Die Räder im Getriebe dieses fehlerhaften System sind Menschen, die versuchen ihre Ambitionen zu verwirklichen, ihre Familien stolz zu machen, ihre eigenen ethischen Grenzen zu setzen und, wie es in der Natur des Menschen liegt, Fehler zu machen. „Ich weiß nicht, ob es besser ist, ein idealistischer Student zu sein als ein normaler Angestellter”, sagt Cronberg. „Ich denke, es sind einfach unterschiedliche Abschnitte im Leben.”

Unsere Gesellschaft lobt den Idealismus, die Unerschrockenheit und die Frische der Herangehensweise, die mit der Jugend assoziiert wird. Aber die frühen Zwanziger sind gleichermaßen eine Zeit, in der man sich in der verletzlichsten Phase des Lebens befindet. Eine angehende Designerin, die gerade frisch ihren Abschluss gemacht hat, fühlt sich mitunter nicht sicher genug, um in einem Unternehmen den Lauf der Dinge zu hinterfragen. Nach der anfänglichen Einfindungsphase, in der sich die Absolventin durch das System gekämpft hat, mag sie sich abgesicherter fühlen, aber oft verschieben sich zu diesem Zeitpunkt die Prioritäten. Ihr Wachstum innerhalb der Branche geht mit einem Wachstum in anderen Lebensbereichen einher – sei es in finanzieller oder persönlicher Hinsicht. Diese persönlichen Entwicklungen verringern die Zeit, die ihnen zur Verfügung steht, das das Modesystem neu zu denken.

Was die Modeindustrie aus Berufsanfängern macht

„Ich glaube, dass die meisten Unternehmen neue Mitarbeitende, insbesondere Hochschulabsolvent:innen, als untergeordnete Mitarbeitende behandeln und von ihnen verlangen, dass sie am unteren Ende anfangen und sich hocharbeiten, anstatt sie strategischer einzubinden", sagt Williams. „Außerdem haben diese nur sehr wenig Mitspracherecht in Bezug auf die Gesamtsysteme, so dass sie am Ende schlicht 'arbeiten', anstatt die Ideen, Theorien und Praktiken aus der akademischen Welt an den Arbeitsplatz zu bringen. Auf diese Weise unterdrücken die Unternehmen das Potenzial für Veränderungen von unten nach oben." Das sei auch ein Grund, so fügt er hinzu, warum so viele Studierende selbst gründen wollen „ nicht, weil sie ihr eigenes Unternehmen leiten wollen, sondern weil sie darin eine Möglichkeit sehen, Veränderungen schneller herbeizuführen.

Die Frage, ob es eine Diskrepanz zwischen der in den Lehrplänen geforderten Arbeit und den täglichen Anforderungen am Arbeitsplatz in der Modeindustrie gibt, ist nicht leicht zu beantworten.

In vielen Ländern und deren Hochschulen ist ein Modestudium als Geisteswissenschaft eingeordnet, was bedeutet, dass für den Bachelor-Abschluss zusätzliche Fächer belegt werden müssen. Die Studierenden befassen sich neben ihrem Hauptfach mit anderen Inhalten, obwohl sie diese Zeit für tiefere Einblicke durch mehr Wahlfächer nutzen könnten. Williams schlussfolgert: „Wenn sie ihren Abschluss machen, haben sie nur grundlegende Informationen in ihrem Hauptfach erhalten – keine Tiefe oder Fähigkeiten."

Er räumt ein, dass Pädagogen sich bemühen, kritisches Denken in ihren Unterricht einzubauen, um Grundlagen für künftiges Lernen zu schaffen. Die Verantwortung spezifische Fähigkeiten zu vermitteln, insbesondere technologieorientierte, lag in der Vergangenheit beim Arbeitgeber. Im derzeitigen System fehlt diese Verantwortung für spezifische Fähigkeiten und ihre Vermittlung.

Einige Schulen legen den Schwerpunkt auf kreativen Ausdruck, andere auf technologisches Know-how, wieder andere sind auf die Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten spezialisiert. Diese Vielfalt an unterschiedlichen Bildungszentren, aus denen Absolvent:innen ausgewählt werden können, ist für die Branche positiv. Allerdings erfordert diese Vielfalt auf der anderen Seite, dass die jungen Leute sich informieren. „Es ist die Aufgabe der Studierenden, sich vor der Wahl einer Universität zu informieren, um wirklich zu verstehen, welchen Ansatz die Schule gerade verfolgt", sagt Cronberg. „Man muss proaktiv sein, wenn man sich für eine Hochschule entscheidet."

Wenn sich Studierende nach Praktika oder bezüglich eines Beitrags bei ihrem Magazin Vestoj erkundigen, bemerkt Cronberg Lücken in ihrer Ausbildung. . „Die Schulen könnten den Schülern besser beibringen, wie man auf Menschen zugeht, all diese zwischenmenschlichen Fähigkeiten, die im Berufsleben extrem wichtig sind."

In den ersten Berufsjahren geht es vor allem darum, zu verstehen, wie es in den verschiedenen Unternehmen zugeht, um einschätzen zu können, wann man sich Gehör verschaffen muss, wie man jemandem ein drittes Mal eine E-Mail schickt, ohne dabei aufdringlich zu wirken, und wie man seine Dienste anbietet, wenn man einer von Hunderten ist, die dasselbe anbieten.

Eben diese Fähigkeiten können auch dazu beitragen, dass jemand als "Changemaker" akzeptiert wird, was zu einer Umgestaltung des Systems von innen heraus führen kann. „Diese kleinen Dinge können einem tatsächlich eine Tür öffnen", sagt Cronberg, „Sie werden in der Ausbildung beiseite geschoben, aber sie sind die praktischen Fähigkeiten, mithilfe denen man sich im täglichen Leben bewegt."

Dieser Artikel wurde zuvor auf FashionUnited.uk veröffentlicht. Übersetzung und Bearbeitung: Karenita Haalck.

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