Textilrecycling vor dem Kollaps? Warum Deutschlands Altkleider-System an seine Grenzen stößt
Das deutsche Textilrecyclingsystem steht an einem Wendepunkt. Die seit 2025 EU-weit geltende Getrenntsammlungspflicht von Altkleidern und die Änderungen der Abfallrahmenrichtlinie im September 2025 zur verpflichtenden Einführung der Erweiterten Herstellerverantwortung (EPR) haben zwar wichtige Voraussetzungen für das Textilrecycling geschaffen – aber die Infrastruktur, die Märkte und die Technologien hinken hinterher. Das hat Folgen.
Eigentlich macht Deutschland schon einiges richtig beim, Thema Altkleiderverwertung. „Im Schnitt steht in Deutschland alle 300 Meter ein Altkleider-Container“, erklärt Thomas Fischer, Referent beim Fachverband Textilrecycling des Bundesverbands Sekundärrohstoffe und Entsorgung e.V. (bvse). Das System ist niederschwellig aufgebaut, die Container stehen an Orten, wo viele Menschen regelmäßig vorbeikommen, etwa an Parkplätzen von Supermärkten, Sportstätten oder Bahnhöfen. Geleert werden sie von Verwertungsbetrieben, die die Ware sortieren und weiterverkaufen. Was nicht weiterverkäuflich ist, wird entweder recycelt – bislang allerdings nur selten zu neuen Textilien – oder thermisch verwertet, also zwecks Energiegewinnung verbrannt. Über Jahrzehnte funktionierte dieses System: Die Menschen haben ihre Kleidung kostenlos in die Container geworfen, die Textilrecycler haben die Ware kostenlos abgeholt und mit dem Weiterverkauf Geld verdient.
In anderen EU-Ländern wie Portugal, Spanien und einigen osteuropäischen Staaten gab es bislang noch keine Getrenntsammlung. Dort landeten Altkleider im Restmüll. Mit der ab 2025 geltenden Getrenntsammlungspflicht werden Altkleider jedoch in allen EU-Ländern getrennt gesammelt, sortiert, weiterverkauft und idealerweise recycelt. Was eigentlich als Fortschritt zu bewerten ist, verursacht jedoch gegenwärtig erhebliche Schwierigkeiten. Immer mehr Textilverwerter reduzieren die Anzahl ihrer Container oder geben sogar ganz auf. Warum?
Preise für Altkleider fallen auf dem internationalen Markt
„Die Europäer:innen produzieren durchschnittlich etwa 16 Kilogramm Textilabfälle pro Person und Jahr“, schreibt der Europäische Bekleidungs- und Textilverband Euratex auf Anfrage von FashionUnited. „Im Jahr 2023 exportierte die EU rund 1,4 Millionen Tonnen Alttextilien, eine Zahl, die in den letzten Jahren stetig gestiegen ist.“ Da weitere Länder in den Handel mit Alttextilien eingestiegen sind und nur ein Bruchteil der eingesammelten Altkleider in den jeweiligen Heimatländern verkauft wird, während der Großteil als Kiloware den europäischen Kontinent verlässt, um in Afrika oder Asien weiterverkauft zu werden, wächst das Warenangebot auf dem internationalen Markt stetig an. Die Folgen sind fallende Preise und geringere Einnahmen der Verwertungsunternehmen. Zudem stehen Exporte von gebrauchten Textilien zunehmend im Fokus der Politik und der Öffentlichkeit – insbesondere, wenn sie im Ausland als Abfall enden. „Diese Zahlen verdeutlichen sowohl das Ausmaß der Herausforderung als auch die Dringlichkeit, Kapazitäten für die Wiederverwendung und das Faser-zu-Faser-Recycling in Europa aufzubauen“, so Euratex weiter.
Billigmode überschwemmt den Markt
Gleichzeitig überschwemmt Billigmode von Temu und Shein die europäischen Märkte. Die chinesischen Onlineplattformen liefern täglich Hunderttausende Pakete nach Deutschland und Millionen Pakete nach Europa. Das bereitet nicht nur den hier ansässigen Modeanbietern, sondern auch den Altkleidersammlern Kopfzerbrechen. Diese Massenware gelangt oft schon viel früher als andere Kleidung in die Altkleidersammlungen. „Aber sie ist für die Weiterverwendung nicht geeignet, weil die Qualität nicht ausreicht“, erklärt Fischer. Sie muss teuer entsorgt werden. Damit kippt das bisherige Geschäftsmodell der Altkleiderbranche. „Wir haben es mit einer Kombination aus Überangebot, Wertverfall und regulatorischer Überforderung zu tun“, sagt Fischer weiter. „Unser System war jahrzehntelang stabil. Doch jetzt ist es an einem Kipppunkt.“
Getrenntsammlung ohne Verwertungspfad
Verschlimmert wurde die Lage in Deutschland noch durch einen Fauxpas der Politik. Die verkündete Anfang des Jahres, dass Textilien nun nicht mehr in den Restmüll dürften. Was gut gemeint war, führte in der Praxis zu massiven Problemen. Viele Bürger:innen warfen daraufhin auch verschmutzte oder beschädigte Kleidung in Altkleidercontainer – im guten Glauben, dass die Verwerter am Rohstoff interessiert seien und die Textilien recyceln würden. Da das System aber mangels Recyclinglösungen auf Weiterverkauf und nicht auf Weiterverarbeitung ausgelegt ist, stiegen die Abfallberge und damit die Entsorgungskosten in den Verwertungsbetrieben weiter an. Die Folge: überfüllte Container und rückläufige Sammelaktivitäten. „Wir sehen aktuell, dass sich erste Akteure vom Markt zurückziehen“, so der Verbandsvertreter. „Dort, wo früher 20 Container standen, sind es heute oft nur noch zehn – bei gleicher Sammelmenge.“ Inzwischen hat das Umweltministerium die Information zum Umgang mit verschmutzter und beschädigter Kleidung zwar korrigiert, doch die Folgen seien noch immer spürbar, sagt Fischer.
Marktverwerfungen und Insolvenzen
Große Sortierbetriebe wie Soex und Texaid mussten in diesem Jahr bereits Insolvenz anmelden. Damit sind zentrale Verwertungsstrukturen weggebrochen, was Kettenreaktionen in der gesamten Branche nach sich gezogen hat. Fischer: „Wenn ein Sammler keine Abnehmer mehr findet, kann er auch nicht mehr sammeln. Das zieht sich durch die gesamte Lieferkette.“ So haben inzwischen auch viele kleinere Sammler ihr Geschäft eingestellt oder stark verkleinert – oft ohne öffentliche Beachtung zu finden. Von der Krise sind auch karitative Sammler wie das Rote Kreuz betroffen, das seine karitativen Aktivitäten durch Altkleidersammlungen finanziert.
Viele Unternehmen verhandeln aktuell mit den Kommunen, um bessere Bedingungen zu erhalten. Angesichts vielerorts klammer Kassen ist das jedoch keine leichte Aufgabe. Gleichzeitig haben auch die Kommunen ein Interesse an einer Fortsetzung der bisherigen Zusammenarbeit, denn durch die gesetzliche Getrenntsammlungspflicht sind auch sie in der Verantwortung: Verschwinden die Container der Sammler, müssen sie die Textilsammlung selbst organisieren, umsetzen und finanzieren.
Recyclingtechnologien sind noch nicht in der erforderlichen Menge verfügbar
Der Wunsch, Textilien im Sinne der Kreislaufwirtschaft in neue Kleidung zu überführen, ist bislang Theorie. Textil-zu-Textil-Recycling ist derzeit nur in Pilotanlagen möglich. „Großtechnische Verfahren, wie wir sie aus dem Kunststoffrecycling kennen, existieren noch nicht“, sagt Fischer. Das hat auch wirtschaftliche Gründe: Neue Fasern sind oft noch billiger als recycelte, was den Markterfolg von Recyclingfasern verlangsamt und die nötigen Investitionen in neue Anlagen bremst. Zudem bestehen immer noch viel zu viele Textilien aus komplexen Mischgeweben, die schwerer und damit teurer recycelbar sind. Daran ändern auch modernste vollautomatisierte Sortiertechniken wenig. Fischer: „Ein T-Shirt für 1,99 Euro wird man nie wieder zu einem T-Shirt für 1,99 Euro recyceln können.“
Uneinheitliche EU-Politik sorgt für Unsicherheit
Genau wie Deutschland kämpfen auch andere EU-Länder mit den neuen Rahmenbedingungen der Getrenntsammlungspflicht. „Frankreich hat sein System der erweiterten Herstellerverantwortung (Extended Producer Responsibility; EPR) mit höheren Herstellergebühren, einer Ökomodulation zur Belohnung besserer Designs und einem „Reparaturbonus” zur Unterstützung der Verbraucher verstärkt. Schweden hingegen musste die Vorschriften vorübergehend lockern und einige minderwertige Textilien wieder in den Restmüll zulassen, da die Infrastruktur mit den Mengen überfordert war“, schreibt Euratex und fordert ein harmonisiertes europäisches Vorgehen: „Diese gegensätzlichen Beispiele zeigen, warum eine Harmonisierung auf EU-Ebene von entscheidender Bedeutung ist: Ohne sie besteht die Gefahr einer Fragmentierung des Binnenmarktes und ungleichmäßiger Fortschritte in Richtung Kreislaufwirtschaft.“
Forderung: Brückenfinanzierung um die Branche zu erhalten
Angesichts der dringenden Herausforderungen verlangt der bsve in einem Positionspapier schnelles Handeln. Eine der zentralen Forderungen ist eine Art Brückenfinanzierung der Branche für Sammlung, Verwertung und Entsorgung, bis die erweiterte Herstellerverantwortung (EPR) greift. Die EPR sieht vor, dass Hersteller, Importeure oder Händler künftig für die Sammlung, Sortierung und Wiederverwertung ihrer in Verkehr gebrachten Produkte am Ende der Nutzungsphase aufkommen müssen. Zwar hat die EU im September dieses Jahres mit der Änderung der Abfallrahmenrichtlinie den Weg für die Einführung der EPR im Textilsektor geebnet, doch erstens ist noch unklar, wie diese genau ausgestaltet wird, weil das Sache der Länder ist. Wenn die EPR im Jahr 2026 in Kraft tritt, dauert es zweitens noch bis 2028, bis sie umgesetzt sein muss. Diese Umsetzungsfrist sei zu lang und gefährde das bestehende Sammel- und Verwertungssystem für Alttextilien, so der Verband. Er fordert daher auch eine Priorisierung des Gesetzgebungsprozesses zur Einführung des EPR und letztlich auch die Festlegung von Mindestquoten für den Einsatz von Recyclingfasern in Neuware, damit das System durch fixe Abnahmemengen endlich rundlaufen kann.
ODER ANMELDEN MIT