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„Wir glauben den Daten der Chemieindustrie per Definition nicht“

Von Regina Henkel

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Business|INTERVIEW

15 Jahre Bluesign. Als das Unternehmen im November 2000 in St. Gallen gegründet wurde, ging es nicht um die Entwicklung eines neuen Eco-Labels. Was Peter Waeber, CEO von Bluesign Technologies, vorschwebte, war die systematische Veränderung der gesamten Textilproduktion. Wie weit ist er bis jetzt gekommen?

Herr Waeber, was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem der weltweiten Textilproduktion?

Meiner Meinung nach ganz klar die Ressourcenverschwendung – Wasser, Energie, Chemie. Das ist das größte Problem. Und daran hängen alle Folgeprobleme wie Umweltverschmutzung etc. Klar ist: Ohne Systemänderung fahren wir gegen die Wand. Da muss man nicht grün sein, um das zu erkennen.

Bluesign ist vor genau 15 Jahren gestartet. Ist die Textilproduktion heute besser geworden?

Die Produktionsweise hat sich ganz allgemein gesehen nicht verbessert. In Einzelfällen natürlich schon, aber in der Gesamtheit nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall. In den letzten Jahrzehnten ist fast die gesamte Textilproduktion aus Europa verschwunden und mit ihr haben wir auch das Knowhow verloren. Aber das Schlimme ist: Auch die Chemieindustrie ist inzwischen abgewandert. Die Textilindustrie hat ihren Preisdruck an die Chemieindustrie weiter gegeben, und jetzt sitzen all die Veredler, Ausrüster und Färber in Billiglohnländern, in denen die EU Standards, die wir hier für genau diese Industrie aufgebaut haben, nicht gelten. Die Textilchemie ist eine Billig-Chemie, es lohnt sich für Chemiekonzerne nicht mehr, in diesem Bereich europäische Standorte zu betreiben oder auch nur in umweltfreundlichere Produktionsmethoden, alternative Rezepturen oder Ressourcenschonung zu investieren.

Bluesign war ja nicht der erste Standard, und ist bei Weitem nicht der Einzige. Was machen Sie anders als andere wie z.B. Öko-Tex, GOTS etc.?

Unsere Grundphilosophie lautet: Man muss den Input managen, also die Chemie, die in den Produktionsprozess reinkommt. Denn dort fängt alles an. Nur zu schauen, wie man z.B. die Giftstoffe später aus dem Produkt rauswäscht und in der Kläranlage unschädlich macht, ist der falsche Ansatz. Es hat lange gedauert, aber das haben inzwischen viele verstanden. Entsprechend kann es nicht darum gehen, nur ein Produkt am Ende des Produktionsprozesses auf Unbedenklichkeit zu testen oder zu zertifizieren, sondern es geht immer darum, die gesamte Supply Chain auf geringen Ressourcenverbrauch zu optimieren und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass in der Produktion keine negativen Einflüsse auf die Umwelt entstehen. Deshalb unterscheiden wir auch nicht zwischen Mode- oder Sportindustrie und auch nicht zwischen Natur- und Chemiefaser. Unser Standard lässt sich auf alles anwenden.

Wie kontrollieren Sie die textile Chemieindustrie in Billiglohnländern

Wir glauben den Daten der Chemiebetriebe nicht. Per Definition nicht. Ich habe selbst lange erfolgreich ein Chemieunternehmen geführt, ich weiß wie es läuft. Und wenn sie wissen, dass etwa 98 Prozent der Chemiebetriebe in Asien keine Software haben, um die verwendeten Stoffe und Prozesse zu dokumentieren, aber trotzdem derartige Sicherheitsdatenblätter an ihre Kunden verschicken, dann wissen sie auch, dass die alle falsch sind. Das Drama ist, dass man diesen Dokumenten glaubt. Noch nicht einmal Greenpeace hat das durchschaut. Es geht nur, wenn man die Prozesse versteht und vor Ort selbst überprüft. Bis heute sind wir auch die einzigen, die ein Audit bei Chemiefirmen machen, umweltfreundliche Verfahrensweisen einführen um am Ende des Prozesses als Resultat die dringend notwendigen Risk Assessments überhaupt durchführen zu können.

Sie versprechen mit bluesign nicht nur mehr Umweltschutz, sondern auch eine Kostenersparnis durch den Einsatz von weniger Ressourcen und besserer Chemie. Dieser Ansatz müsste in der Industrie doch gut ankommen …

Natürlich. Wir haben Betriebe, die durch unsere Zusammenarbeit Kosten von fünf Millionen Dollar im Jahr einsparen konnten. Diese hohen Summen erreichen hauptsächlich Veredler. Aber dennoch stellen wir fest, dass viele Firmen bei der Verbesserung ihrer Supply Chain nicht weiterkommen und haben uns gefragt, woran das liegt. Unsere Erklärung dafür: Es fehlt am nötigen Wissen, wie man Prozesse optimieren kann. Die Komplexität der Probleme ist den meisten nicht wirklich bewusst. Auch nicht Greenpeace und auch nicht den Machern des aktuellen Films „The true cost“. Es gibt keine einfachen Lösungen. In einer Jacke können heute bis zu 500 Chemikalien zur Anwendung kommen – es ist ein enormer Aufwand nötig, um jede einzelne zurückzuverfolgen, zu bewerten, Alternativen zu finden. Deshalb haben wir im Sommer unser neues Tool, den bluesign blueXpert, gelauncht.

Was genau ist das?

Mit dem blueXpert haben wir ein revolutionäres, webbasiertes Tool entwickelt, mit dem unsere Partner selbst ermitteln können, wie sie ihre Prozesse verbessern können. Ganz ohne externes Consulting. Im blueXpert fließt unser Wissen zusammen, indem wir unsere bestehende Liste an sauberen Chemikalien kombinieren mit den dazugehörigen Grenzwerten und Prozessen nach dem Standard der jeweils Best Available Technology. Das heißt, mit dem blueXpert kann jeder die eigenen Prozesse mit der Best Available Technology vergleichen. Wir haben dafür ein Netzwerk von 80 Chemielieferanten aufgebaut, darunter die größten Chemiehersteller der Welt, die im ersten Quartal 2016 damit beginnen, ihre Daten hochzuladen. Damit können Hersteller nicht nur ermitteln, welche Chemie, welcher Prozess und welche Maschine für ein bestimmtes Produkt die Best Available Technology ist, sie können auch berechnen, welches Einsparungspotenzial damit verbunden ist. Interessant ist auch, dass man mit diesem Instrument den Einfluss auf die Umwelt bereits vor der eigentlichen Produktion ermitteln kann. Alle Daten bleiben streng geheim und sind gesichert wie ein Bankkonto.

Wie gehen Sie vor, wenn ein Unternehmen mit Ihnen zusammenarbeiten will?

Wir beginnen bei der Textilfirma mit einem umfangreichen Audit und bewerten die verwendeten Chemikalien in einem Drei-Farben-Ranking: Black, Grey, Blue. Dabei heißt Black, die Chemikalie muss raus und Blue steht für gut. Als zweiten Schritt machen wir ein Screening über ein ganzes Produktionsjahr, um alle denkbaren Produkte abbilden zu können und sehen anhand der verwendeten Chemikalien, wo Änderungsbedarf ist. Da kann z.B. herauskommen, dass 30 bis 50 Prozent der Chemikalien ausgetauscht werden müssen. Nur wer dazu bereit ist, kann eine Systempartnerschaft mit uns eingehen. Im dritten Schritt geht es dann darum, alle notwendigen Anpassungen für eine umweltfreundliche Produktion umzusetzen und weitere Potenziale der Verbesserung zu finden. Erst dann beginnen wir, ein Produkt zu zertifizieren. Wichtig dabei ist – es geht nicht, nur eine Linie gut zu machen, es geht nur die ganze Firma.

Und wie zertifizieren Sie eine Brand?

Eine Brand muss sich verpflichten auf nachhaltige Produktion umzustellen. Das ist ein Muss. Wir wissen aber, dass man in gewissen Bereichen keine 100-prozentigen Lösungen bekommt. Wir schulen die Marken im Sourcing, geben Hinweise wie sie Prozesse optimieren können, machen eine Priority Matrix usw.

Wie lange dauert es etwa, bis z.B. eine Marke ihr erstes bluesign-Produkt auf den Markt bringen kann?

Für eine Brand hat es in der Vergangenheit etwa drei Jahre gedauert – je nach Komplexität der Produkte und wie viele Zulieferer beteiligt waren. Wenn es sich um eine reine T-Shirt-Brand handelte, ging es natürlich schneller. Heute brauchen wir in der Regel nicht mehr so lange, weil es schon viel mehr zertifizierte Zuliefer-Betriebe gibt, auf die man einfach zurückgreifen kann.

Gab es Brands, die wieder abgesprungen sind?

Es gab nur zwei oder drei, die Mehrheit ist dabei geblieben. Aber das heißt nicht, dass alle schon am Ziel wären. Es braucht viel Zeit, bis sich etwas ändert in der textilen Fertigungskette, und vielen dauert es zu lange. Eine Brand alleine kann bei einem Zulieferer ohnehin kaum etwas bewirken, deshalb ist es gut, wenn sich Marken zusammenschließen um Druck auszuüben. Denn klar ist: Ein Textilbetrieb in Asien will seine Chemie nicht wechseln und die Verfahren ändern! Und wenn er es tut, und dabei sogar Kosten einspart, will er den Kostenvorteil nicht unbedingt an seine Kunden weitergeben.

Arbeiten Sie auch mit fremden Auditoren zusammen?

Nein, das geht nicht. Wir müssen unsere Auditoren selbst ausbilden, wir brauchen ja Spezialisten, die sich mit den Prozessen und der eingesetzten Chemie bestens auskennen. Es geht nicht darum, eine Liste abzuarbeiten wie bei einer ISO Zertifizierung. Alle bluesign Mitarbeiter werden auch regelmäßig einem Integrity Training unterzogen. Außerdem wird jede Zertifizierung von einem weiteren Auditor nochmal überprüft.

Warum gibt es eigentlich keine 100-prozentigen Lösungen?

Man muss Kompromisse machen. Die Frage lautet immer, gehe ich mit den Grenzwerten so hoch, dass sie nur noch ganz wenige erreichen können und bewirke damit - global gesehen – wenig. Oder setze ich sie so an, dass sie für viele Unternehmen erreichbar erscheinen und erziele damit tatsächlich eine große Wirkung. Allerdings nur, solange die Consumer Safety nicht beeinträchtigt ist und unsere publizierten Grenzwerte für die Produktion eingehalten sind. Das ist das Minimum. Mir war immer klar, wenn das ganze etwas bringen soll, dann muss ich die großen Player erreichen um an die großen Warenströme zu kommen.

Wie kann es sein, dass Greenpeace in seiner Detox-Kampagne immer wieder nur die Outdoorbranche attackiert? Ist die Modebranche sauberer?

Das ist eigentlich nicht ganz fair, denn gerade die Outdoorindustrie ist diejenige gewesen, die die ganze Entwicklung vorangetrieben hat - lange bevor Greenpeace die Detox Kampagne gestartet hatte. Drei Dinge macht sie besonders gut im Vergleich zur Fast Fashion Industrie: Die Verwendung von Recyclingmaterialien, z.B. recyceltem Polyester aus PET-Flaschen, die Entwicklung von Lightweight-Produkten, die bei gleicher Performance weniger Rohstoffe benötigen und natürlich auch im Bereich des Leasings, z.B. der Verleih von Sportgeräten, wie z.B. Skiern usw. Und nicht zu vergessen, die grundsätzlich lange Lebensdauer der Produkte, die sich in einer Life-Cycle-Analyse immer sehr positiv auswirken.

Stichwort Recycling: Ist das tatsächlich eine umweltfreundlichere Alternative zur Neuproduktion?

Es kommt darauf an. Im Fall des Recyclings von PET-Flaschen ganz sicher. Diese Flaschen haben Food-Standard und sind eine ganz hochwertige Ressource, die sie im Prinzip beliebig oft ohne Qualitätsverlust recyceln können. Wenn sie aber z.B. Polyesterjacken unterschiedlicher Hersteller recyceln, dann wissen sie oft nicht, welche Substrate noch im Produkt sind. Dann kann es sein, dass sie im Garn später hochtoxische Stoffe finden, weil das Ausgangsmaterial nicht sauber war. Firmen wie Patagonia oder auch der Stoffhersteller Teijin in Japan recyceln deshalb nur eigene Produkte, weil sie nur dort genau wissen was drin ist. Und was H&M betrifft, die ja auch sagen, sie würden die getragene Ware recyceln, so geht es dort ganz klar darum, die Ware möglichst schnell in den sehr lukrativen Second-Hand-Markt zu bringen, da damit der Umsatz weiter gesteigert werden kann. Will man aber z.B. Baumwolle mechanisch recyceln, so geht das nur ein bis zwei Mal und mit entsprechendem Qualitätsverlust. Grundsätzlich bin ich aber der Meinung, dass nicht die Recyclingfähigkeit das Entscheidende ist, sondern die Produktlebensdauer. Wenn ein Produkt zehn Jahre hält und genutzt wird, habe ich kein Problem damit, wenn es sich nicht recyceln lässt. Nach der Life-Cycle-Analyse ist es dann immer noch das bedeutend umweltfreundlichere Produkt.

Die schwierige Kontrolle der Supply Chain verstärkt immer mal wieder den Ruf nach einer Rückkehr der Produktion nach Europa. Ist das eine Möglichkeit?

Für Europa sicher nicht. Wir haben doch längst die gesamte Lieferkette verloren – es gibt die Ausbildungsstätten gar nicht mehr, die für die Spezialisten der textilen Fertigung oder Textilchemie benötigt werden. Im Falle von Amerika sehe ich eine Chance was Mittel- und Südamerika als Produktionsstandorte angeht.

Was ist Ihr Fazit nach 15 Jahren?

Zuerst mein negatives: Die Ignoranz der Leader in der Textilbranche ist nach wie vor groß. Deshalb haben wir unser Business auch zuerst mit der Outdoor-Branche aufgezogen, weil wir dort mit einer gewissen Sensibilität der Umwelt gegenüber rechnen konnten. Schauen Sie sich eine Outdoor-Messe an – alle werben mit einer intakten Natur! Und so hat es auch funktioniert.

Mein positives Fazit lautet: Ich sehe derzeit sehr sehr viele hochmotivierte, meist junge Leute in den Brands, die ihre Zulieferer zu einem besseren Umweltverhalten bewegen wollen. Das Bewusstsein ist definitiv geschärft worden. Daran hat auch das Internet seinen Anteil, weil wir dadurch mehr Transparenz in die Lieferkette bringen und der Konsument aufgeklärter ist.

Und was ist Ihr Ziel?

Das Ziel muss ja sein, dass bluesign schließlich nicht mehr braucht wird, weil die Textilindustrie weltweit so gut geworden ist, dass die Umwelt nicht mehr belastet wird, Giftstoffe aus der gesamten Lieferkette eliminiert worden und die Prozesse selbst ressourcenschonend sind.

BLUESIGN