Brave New World: Die Zukunft des stationären Modehandels
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Die Zukunft ist Mobile. So lautete die zentrale Botschaft der IT-Branche noch vor einem Jahr. Und während der Modehandel wie besessen daran arbeitet, seine Internetseiten und Online-Shops auf den neuesten Stand der Smartphone-Kompatibilität zu bringen, hat sich die IT-Branche schon wieder einem neuen Projekt zugewendet: Die Digitalisierung des POS.
Um es zu Beginn einmal ganz klar zu formulieren: Aktuell liegt der Onlineanteil am Einzelhandelsvolumen im Modehandel bei etwa 10 Prozent. Auch progressiv gestimmte Zukunftsszenarien gehen davon aus, dass der Anteil in den nächsten fünf Jahren nicht die 25 Prozent-Marke überschreiten wird, konservative Berechnungen pendeln sich bei etwa 20 Prozent ein (Quelle: ibi Research 2014). Damit ist die Bedeutung des E-Commerce im Vergleich zum stationären Handel nach wie vor relativ klein. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt außerdem, dass der stark zunehmende Wettbewerb unter Online-Händlern das Online-Geschäft sehr strapaziert hat und der Kampf um die besten Preise und höchsten Rabatte ein Geschäftsmodell hat entstehen lassen, das viele Händler abschreckt. Wer Online heute vorne sein will, braucht nicht nur ein einzigartiges Sortiment, vor allem braucht er einen technologischen Vorsprung. Den haben in erster Linie die großen Pure Player wie Zalando oder Amazon. Und das Tempo, in dem Innovationen präsentiert werden, ist atemberaubend. Es ist noch nicht lange her, da betonte die IT-Branche unablässig, nur ein eigener Onlinestore könne die Zukunft des stationären Handels sichern. Heute dagegen, wo viele Shops in der Sanierungsphase stecken weil sie nicht rentabel sind, raten viele Experten zur Vorsicht. Die Erkenntnis, die sich langsam durchzusetzen scheint, lautet: Das Onlinebusiness wird den stationären Handel so schnell nicht ablösen. Stattdessen wird es in Zukunft immer mehr darum gehen, beide Welten miteinander zu verbinden und den POS technisch mit den gleichen Analysetools auszustatten, die im Onlinehandel längst üblich sind.
Neue Frequenzbringer für stationäre Stores
Immer mehr IT-Unternehmen beschäftigen sich deshalb mit der Frage, wie man den stationären Handel wieder profitabler macht und suchen nach Innovationen, die im Store Sinn machen. „Aus unserer Sicht ist es oft nicht der richtige Weg für einen stationären Modehändler“, sagt Stefan Voß von Phizzard, „den anderen Händlern ins Onlinebusiness zu folgen um gesunkene Umsätze zu kompensieren. Man muss sich darauf konzentrieren, stationär profitabler zu werden.“ Phizzard hat es sich zur Aufgabe gemacht, durch Digitalisierung und die Nutzung von Big Data im stationären Geschäft effizienter zu werden. Die Idee von Phizzard bezieht sich auf den Bereich Umkleidekabine, den Ort also, wo die Kaufentscheidung getroffen wird: In jeder Umkleidekabine soll ein Touchscreen, der mit dem firmeneigenen Rechenzentrum verbunden ist, den Kunden individuell beraten und bei der Auswahl der richtigen Größe helfen. Einfache Bewertungen über das Display, wie z.B. „zu klein“ oder „zu groß“, ermitteln die passende Größe, Produktalternativen und passende Styles zum kombinieren. „Wer will, kann über das Tool dem Verkäufer Bescheid geben, dass er den Artikel in einer anderen Größe probieren will“, so Voß weiter. Auf die Weise will Phizzard helfen, Kaufprozesse im Store erfolgreich abzuschließen. Auch Special-Offers, Gutscheinaktionen und Bezahllösungen sind über das Display in der Umkleide denkbar. Phizzard kooperiert mit Shoepassion.com in Berlin.
Eine weitere Herausforderung ist es, den Kunden überhaupt in den Store zu locken. „Das größte Problem des stationären Handels ist die Abhängigkeit von der Laufkundschaft“, sagt Peter Thulsen von Shopkick Germany. „Mobile hat alles verändert, damit haben wir ganz neue Möglichkeiten bekommen.“ Shopkick hat eine Shopping App für Smartphones und Tablets entwickelt, die Kunden dafür belohnt, wenn sie einen Store betreten. Mithilfe der App können Kunden Punkte sammeln und in Gutscheine umwandeln oder direkt Rabatte erhalten. Um den Service dem Konsumenten schmackhaft zu machen, wirbt das Unternehmen in Deutschland mit TV-Werbung. Nach Meinung von Thulsen könne nur eine übergeordnete App den Konsumenten überzeugen: „Marken und Händler können das nicht allein schaffen.“ Stattdessen seien sie gut beraten, sich Plattformen anzuschließen, die mobile Angebote bündeln und über eine ausreichend große Reichweite verfügen. „Selbst Walmart und Target erreichen in den USA nur eine Nutzung ihrer App von etwa sechs Prozent, obwohl es so große Handelsmarken sind. Die Leute laden sich die App nicht runter und schauen auch nicht rein, wenn sie installiert ist.“ Eine Million Downloads registrierte die Shopkick App in Deutschland seit dem Launch Anfang des Jahres. Über 500.000 Besuche habe die Anwendung in den ersten Monaten in den Partnershops registriert. Handelspartner in Deutschland sind z.B. Reno, Douglas, Media Markt und Saturn, Penny und Karstadt.
Der stationäre Store wird zum Labor
Ein großer Wettbewerbsvorteil der Onlinestores ist die Nutzung von Analysetools, die Daten über das Verhalten der Kunden nicht nur sammeln, sondern mithilfe intelligenter Software auch auswerten und sogar vorhersagen können. So weiß z.B. der Onlinestore Windeln.de, dass mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ein Kunde mit einem Windel-Kind in etwa drei Jahren das nächste Kind erwartet und die entsprechenden Käufe tätigen wird. Newsletter werden dann ganz individuell zusammengestellt und versuchen, so nah an die Lebenssituation des Kunden heranzukommen wie möglich. Aber wie soll ein stationärer Store das Verhalten der Kunden derart analysieren und nutzen? Auch dafür gibt es inzwischen einige Ideen. Am bekanntesten sind iBeacons, also kleine Sender, die im Laden verteilt sind und über Bluetooth oder WLAN Kontakt zum Smartphone des Kunden aufnehmen – entweder über eine zuvor installierte App oder per WLAN. Sie bieten einerseits dem Kunden Informationen über das Sortiment oder z.B. Rabattaktionen, ermöglichen andererseits aber auch dem Betreiber des Stores, mehr über die Laufwege des Kunden im Store zu lernen oder die Identität des Kunden festzustellen und mit früheren Käufen zu verknüpfen. So weiß der Verkäufer gleich, ob er einen Stammkunden vor sich hat oder einen Neukunden und kann entsprechend reagieren. Auch Wärmebildkameras werden schon eingesetzt um die Anzahl der Kunden zu ermitteln und Orte bzw. Produkte zu identifizieren, wo Kunden am längsten stehenbleiben. Sensoren an Regalen messen, welche Produkte angehoben werden und offensichtlich das Interesse des Kunden wecken. Gleiches passiert mit Kleiderbügeln, die von der Stange genommen werden. So lässt sich die Produktpräsentation effizienter gestalten und Highlights können - auch regional unterschiedlich – besser ermittelt und herausgestellt werden. Der Store wird zum Labor, in dem Reaktionen der Kunden direkt gemessen werden können. „Ich denke, drei bis vier Jahre dauert es noch, bis die ersten digitalisierten stationären Geschäfte Realität sind“, sagt Christian Rößler von der Agentur Serviceplan, die im letzten Herbst in Kooperation mit dem Ladenbauer Vitra und Bogner in München den nichtöffentlichen Pilotstore „Weshop“ entwickelt hat, um das Konzept dem Handel vorzustellen. Reine Online Player wie Zalando oder auch Blue Tomato experimentieren längst mit Retail, mal als Pop-up wie bei Zalando, mal als ernstgemeinte Multichannel-Strategie wie bei Blue Tomato. Selbst Riesen wie Amazon, Ebay und sogar Google haben bereits erste stationäre Ableger. Google eröffnete erst in diesem Frühjahr einen Shop-in-Shop in der Londoner PC-Handelskette Currys PC World um dort die eigenen Smartphones und Laptops zu verkaufen.
Wer aus der Perspektive des Kunden heraus argumentiert, so das Credo, unterscheidet nicht mehr zwischen den einzelnen Kanälen. Everywhere Commerce (= Überall-Handel) und No-Line Commerce (= grenzenloser Handel) heißen die neuen Schlagworte. Bislang hatte der Online-Handel die Innovationsführerschaft inne, jetzt zieht der stationäre Handel nach und damit verwischen auch die Grenzen.