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Der rasante Aufstieg der Künstlichen Intelligenz im Modehandel: Die Ruhe vor dem Sturm?

Von Gastautor:in

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Einzelhandel|Kommentar
Foto: Melvin van Tholl

Als ich letzte Woche in Los Angeles war, beherrschten zwei Themen die lokalen Medien. Ein aufkommender Wintersturm – der Südkalifornien nach mehr als 30 Jahren wieder Schnee brachte – und der rasante Aufstieg der generativen Künstlichen Intelligenz. Letzteres erschütterte nicht nur das Silicon Valley in seinen Grundfesten, sondern auch die Handelsparkette der Wall Street. Denn die Erwartungen an dieses "schicke Stück" neuer Technologie sind recht hoch.

Viele Expert:innen sehen in ihr den "Gamechanger", der das Machtgleichgewicht zwischen den Tech-Giganten, zwischen Tech-Unternehmen und Nationen, aber auch unser alltägliches gesellschaftliches Handeln grundlegend verändern wird. Vor allem die traditionellen Dienstleistungssektoren – einschließlich des Einzelhandels – sehen bereits, wie sich der Sturm zusammenbraut. Die mächtigen “Convenience-Plattform” – wie Amazon, Google und sogar Microsoft – haben eine Superwaffe in der Hand, und der Kampf um die Gunst der Verbrauchenden wird bald beginnen.

Wie in einem echten Science-Fiction-Film werden Menschen in der Lage sein, intelligente Chatbots und virtuelle Assistent:innen zu nutzen, um ihre Wünsche für den Tag mitzuteilen, sobald sie aus dem Bett aufstehen, oder sogar die Einkaufslisten selbstständig von diesen intelligenten Bots ausfüllen zu lassen, ohne auch nur daran zu denken. Verbraucher:innen werden also bald ganz aus dem Blickfeld der Einzelhändler verschwinden. Also wie bekommen Sie Kund:innen dann noch in Ihr (physisches) Geschäft oder in Ihre Einkaufsstraße? Indem man sich menschliche Qualitäten geschickt zunutze macht.

Die große Komfortverschiebung: still, aber vorhersehbar

Auch wenn es den Anschein hat, dass sich noch nicht viel ändert, so kann man doch sagen, dass sich unter dem Radar etwas sehr Tiefgreifendes abspielt. Darauf sollten Sie vorbereitet sein. Wir haben bereits gesehen, wie die Digitalisierung – mit dem Online-Shopping im Schlepptau – Löcher in unsere Einkaufszentren gerissen hat. Jetzt kommt zu dieser Digitalisierung eine weitere Dimension hinzu: die Nachahmung menschlicher Intelligenz – nur schneller. Sie wird auch künstliche Intelligenz (KI) genannt. Obwohl KI schon seit einiger Zeit unter uns ist – um zu bestimmen, welche Werbung wir in den sozialen Medien sehen oder wie kreditwürdig wir bei der Bank sind – haben Unternehmen wie OpenAI (in Zusammenarbeit mit Microsoft) jetzt eine intelligentere Version entwickelt, die generative KI. Während normale KI-Programme darauf ausgelegt sind, Muster zu erkennen und gezielte Vorhersagen zu treffen, handelt es sich bei der generativen KI um eine spezielle Kategorie, die selbst völlig neue Inhalte in Form von Text, Bildern oder Audio generieren kann. Im letzten Herbst wurde uns ChatGPT vorgestellt, das eine umfassende oder zusammengefasste Antwort erstellt, Gedichte komponiert oder komplexe Aufsätze schreibt. Zuvor konnten wir auch die kreativen Visualisierungen von Dall-E bestaunen. Dall-E, ebenfalls eine generative KI von OpenAI, bildet als Text-2-Bild-Tool Texteingabe in einem bestimmten Stil und einer bestimmten Form ab.

Generative KI wird heute hauptsächlich mit der Internetsuche (Informationsbeschaffung) in Verbindung gebracht, aber sie wird bald auch in anderen Anwendungen Einzug halten. Denken Sie an einen virtuellen Sprachassistenten, der Ihnen als E-Stylist hilft, Ihre Garderobe zu aktualisieren, während Sie sprechen. Er empfiehlt Ihnen Outfits, die auf Ihrem Geschmack und den neuen Trends basieren. Oder das eine Outfit, das Sie zuvor auf TikTok oder Instagram gesehen haben, für Sie bestellen, gegebenenfalls anpassen lassen und von einem Kurier dorthin liefern lassen, wo Sie sich gerade befinden. All dies geschieht in einem reibungslosen und fließenden Prozess, in den Sie persönlich nicht eingreifen müssen, der aber mit Ihrer Zustimmung erfolgt. Kurzum: Bequemlichkeit in jeder Hinsicht.

Das ist es, was wir "The Big Convenience Shift" nennen: Alle früheren Dienstleistungen und Schalter, die notwendig waren, um Sie als Verbraucher:in in physischen Kontakt mit einer neuen Hose oder einem neuen Kleid zu bringen, haben sich vollständig auf eine Convenience-Plattform verlagert, das heißt vollständig in eine intelligente Convenience-Lösung integriert, die ebenfalls innerhalb eines Kontaktmoments fixiert ist. Das spart Zeit, Mühe und möglicherweise auch Geld. Denn darum geht es bei Convenience-Plattformen: Verbraucher:innen Geld, Zeit und Mühe zu sparen. Die aktuellen Generationen von generativen KI-Tools sind noch nicht so weit, dass sie ihre Aufgaben reibungslos und fehlerfrei erledigen können, aber Expert:innen gehen davon aus, dass sie es in ein bis zwei Jahren sein werden. Die Analyst:innen von der Unternehmensberatung PwC sagen voraus, dass die KI der Weltwirtschaft bis 2030 einen Schub von 15 Billionen US-Dollar (11,39 Billionen Euro) verleihen wird. Das ist eine Zahl mit 12 Nullen!

Und während wir durch Convenience-Plattformen Zeit, Geld und Energie bei der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse sparen, werden die Konsument:innen diese Mittel wiederum für andere Bedürfnisse, wie etwa Unterhaltung, ausgeben wollen. Vor allem die jüngeren Generationen greifen heutzutage auf den Erlebnismarkt (Experiences) zurück. Laut ChatGPT wird der Markt für Erlebnisse bis 2030 auf über zwölf Billionen US-Dollar anwachsen, was auch von anderen Marktforschungsinstituten wie Euromonitor und Allied Market Research bestätigt wurde und den Erwartungen entspricht. Und in der Unterhaltung ist das Bedürfnis nach echten (zwischen)menschlichen Aktivitäten besonders zentral.p>

Erlebnis in Fußgängerzonen und Einkaufszentren

Inzwischen lese ich in den niederländischen Medien, wie unsere lokalen Einkaufszentren mit rückläufigen Besucherzahlen zu kämpfen haben, darunter vor allem mittelgroße Einkaufszentren. Auch in Großstädten haben einige bekannte Einkaufsstraßen – wie die Leidsestraat in Amsterdam – Probleme mit rückläufigen Frequenzen. Demgegenüber stehen die großen Erfolge von The Mall of The Netherlands und Hoog Catharijne in Utrecht, was die Besuchendenzahlen angeht. In all diesen Einkaufszentren spielt das Unterhaltungsangebot eine wichtige Rolle im Mix der Einrichtungen. So auch in der Westfield Century City Mall in Los Angeles, ebenfalls von der Unibail-Rodamco-Westfield-Gruppe, die hinter The Mall of the Netherlands sowie dem Hamburg-Überseequartier steht. In diesem atemberaubenden architektonischen Konzept gibt es eine schöne Mischung aus Einzelhandel, Gastronomie, Unterhaltung sowie Sport und Lifestyle. Dazu gehören ein beeindruckendes Theater, eine Pop-Bühne, botanische Lounge-Bereiche, hippe Gastronomie, Sportclubs, Einzelhandelsketten, Boutiquen und ein Concierge-Service.

All dies garantiert mehrere Stunden reine Unterhaltung, wobei Sie Ihre Zeit, Ihr Geld und Ihre Bemühungen so weit wie möglich auf all diese Treffpunkte verteilen können. Das Einkaufszentrum ist eine echte Destination. Und dabei haben sie ein klares Profil für ihr Zielpublikum. Das Unterhaltungs- und Gastronomieangebot strahlt eine hippe Atmosphäre aus, die durch einen geschäftsmäßigen Ton – Concierge in Anzügen und Abkürzungen in der Routenplanung – ergänzt wird, um Besucher:innen aus dem nahe gelegenen Geschäftsviertel eine reibungslose Erfahrung zu ermöglichen.

Westfield Century City LA. Foto: Melvin van Tholl
Botanische Lounge-Zonen und Immersives Theater in der Westfield Century City LA. Foto: Melvin van Tholl

Auch mittelgroße Einkaufszentren können einen physischen Besuch mit Unterhaltung aufpeppen, wie das Gelderlandplein in Amsterdam Buitenveldert. Dieses Shoppingcenter präsentiert sich als ein Ort der Bequemlichkeit mit einem Hauch von Luxus. Auch hier gibt es eine gute Mischung aus Gastronomie und Einkaufsmöglichkeiten. Das Angebot richtet sich vor allem an die älteren und wohlhabenderen Bewohner:innen des Viertels, die dort gerne einkaufen und bummeln kommen. Aber auch Geschäftsleute und Studierende der Freien Universität kommen gerne hierher. Zur Bequemlichkeit gibt es kostenlose Shuttlebusse zwischen dem Gelderlandplein, dem Geschäftsviertel Zuidas und den nahe gelegenen Hotels. Das Management des Gelderlandplein verfolgt eindeutig eine Strategie um Trubel zu erzeugen.

Einkaufsstraßen sind für die Lebensqualität einer Stadt oder eines Dorfes von wesentlicher Bedeutung. Während Geschäftsverbände oft aktiv sind, um die allgemeinen Interessen der Geschäfte und Restaurants zu vertreten, kann es hilfreich sein, einen Erlebnisausschuss einzusetzen, um ein klares Profil mit einem angenehmen Kundenerlebnis zu entwickeln. Dies gewährleistet die unmissverständliche Botschaft und das Versprechen, dass es in den betreffenden Zentren oder Straßen mehr zu erleben gibt als nur funktionale Einrichtungen.

Physische Einzelhändler:innen: Menschlichkeit zur Nutze machen

Sobald die Kund:innen das Geschäft betreten haben, sollten sie auch das Gefühl haben, dass ihre physische Anwesenheit bedeutet, dass sie an den richtigen Ort gekommen sind, um sich zu amüsieren oder um einen würdigen und persönlichen Service zu erhalten. Der zwischenmenschliche Kontakt ist hier sehr wichtig, ebenso wie die Art und Weise, wie man es schafft, sein Glücksgefühl zu stimulieren. Das habe ich selbst in der Umkleidekabine von Ralph Lauren in Los Angeles erlebt. Bevor ich ein Poloshirt anprobieren konnte, durfte ich erst einmal auf einem bequemen Ralph Lauren Sofa Platz nehmen. Während ich eine Weile darauf warten musste, dass meine Umkleidekabine vorbereitet wurde, durfte ich mir einen Cocktail mit Erfrischungen aus einer speziellen Menükarte aussuchen. Man wird überhaupt nicht gedrängt, denn je länger man sich dort aufhält, desto besser für den Umsatz und das Cross-Selling.

Getränke und Häppchen bei Ralph Lauren. Foto: Melvin van Tholl.

Auch im und um den Laden herum können Sie jeden Kontaktmoment mit Ihrer Kundschaft nutzen, um eine persönliche Verbindung herzustellen. Einmal stand ich zum Beispiel vor dem Schaufenster eines besonderen Geschenkeladens, der sehr an eine Wunderkammer erinnerte. Die Inhaberin telefonierte drinnen, sah aber, dass ich hineinschaute. Sie legte sofort auf und kam heraus, um mich zu begrüßen. Offensichtlich wusste sie nicht, dass ich aus reiner Neugierde schaute, aber sie erkannte, dass mein Interesse ein Anlass war, einen weiteren Schritt hineinzugehen. Das passierte auch. Und bei einer Tasse Kaffee lernte ich sie und die Geschichte hinter ihrer Marke kennen. Auch die Geschichte der Designer:innen und Künstler:innen, deren Kreationen ich anfassen, riechen und schmecken durfte. Von dieser ganzen Erfahrung berührt, verließ ich den Laden mit einem Geschenk für einen Freund, der sowieso bald Geburtstag hat. Durch ein solches Gesamterlebnis hat eine physische Präsenz einen Mehrwert gegenüber einem Online-Fix-Moment über Amazon.

Die Zeit wird zeigen, ob die Künstliche Intelligenz ein Gamechanger oder viel Wirbel um Nichts ist. In diesem sehr bewegten Markt ist es jedoch immer ratsam, die menschliche Seite der Kund:innen anzusprechen, denn so stellt man den Kontakt her und bleibt über einen längeren Zeitraum im Gespräch.

Dies ist ein Beitrag von Melvin van Tholl, Customer Experience Architect bei Bloody Believers, einer kreativ-strategischen Agentur, die Marken und Unternehmen hilft, bahnbrechende Lösungen für ihre Kundenerfahrung zu entwickeln. Van Tholl ist sowohl für Unternehmen in den Niederlanden als auch im Ausland aktiv. In dieser Serie nimmt er Sie mit in die wunderbare Welt der Verbraucher:innen und zeigt Ihnen, wie Sie Ihr Unternehmen auch aus der Sicht der Kundschaft zukunftssicher machen können.

Dieser übersetzte und bearbeitete Beitrag erschien zuvor auf FashionUnited.nl.

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