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Die Apokalypse ist vorbei: Zeit für die Renaissance des Einzelhandels

Von Jackie Mallon

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Einzelhandel

Menschen erledigen ihre Weihnachtseinkäufe. Bild: FashionUnited

Noch vor einem Jahr waren die Schlagzeilen voll von dem Untergang, der „Apokalypse” des Einzelhandels. Diese Negativentwicklung hat sich gewandelt – Nikki Baird spricht von einem Wiederaufleben des Einzelhandels. Baird ist Strategieleiterin bei Aptos, einem Anbieter von Unternehmenssoftware, der auf Einzelhandel spezialisiert ist. „Nie zuvor haben wir eine derartige Bedeutung des stationären Ladens gesehen und was er in Bezug auf Geschäftseffizienz und Kundenbindung wirklich bringen kann”, sagt sie gegenüber FashionUnited. „Es ist eine aufregende Zeit”. Aber sind wir auch bereit dafür?

Während der Pandemie hätte eine solche Prognose wie ein Rückblick in die Zeit vor Amazon und Co. geklungen, doch Baird warnt auch davor, dass mit Beeinträchtigungen zu rechnen ist. In den letzten Jahren hat der Einzelhandel aufgrund mangelnder Kundenfrequenz nicht in neue Technologien in seinen Geschäften investiert und zahlt nun die Rechnung dafür. „Viele Zahlungsgeräte entsprechen nicht mehr den Sicherheitsanforderungen und müssen ersetzt werden. Registrierkassen verwenden zwei sehr alte, speziell für den Einzelhandel entwickelte Betriebssysteme von Microsoft, die aber in wenigen Jahren ausgemustert werden. Die Einzelhändler müssen alles ersetzen, die Hardware, die Betriebssysteme und die Software, die darüber läuft”, erklärt Baird.

Wiederbelebung ist das Ziel

Niemand sieht es gerne, wenn das eigene Lieblingsgeschäft schließt, oder die Einkaufsstraßen leere Immobilien aufweisen. Dies war jedoch eine weitere, unglückliche Folge des vermehrten Online-Shoppings in den zwei Jahren der Pandemie. Gleichzeitig wurde auch die Bedeutung des persönlichen Kauferlebnisses, insbesondere der GenZ, unterschätzt. „Die GenZ verbringt so viel Zeit online, dass sie einen Ausgleich dazu sucht. Wenn Einzelhändler die Erfahrung im Geschäft attraktiv gestalten, werden sie kommen”, so Baird. „Der schwierige Teil besteht nur darin zu definieren, was diese Erfahrung ausmacht.”

Einzelhändler sollten in kunden- und serviceorientierte Maßnahmen investieren. Diese sind in der Regel arbeitsintensiver, was wiederum mehr Neueinstellungen bedeutet. Die altbekannten Taktiken, wie eine Trunkshow oder ein großer Ausverkauf, reichen für die Anziehung der Kundschaft nicht mehr aus. Levi’s bietet seinen Kund:innen die Möglichkeit, ihre Jeans zu besticken oder die Knöpfe auszutauschen und liefert damit ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Strategie zur Kundenbindung. Baird erklärt: „Es wird partizipatorisch. Es spricht das Bedürfnis nach Personalisierung an. So etwas kann man nicht online machen. Es lohnt sich, ins Geschäft zu kommen, es zu erleben.”

Technik ist kein Schimpfwort

Auf Einzelhandels-Kongressen wird das Wort Technologie derzeit kaum erwähnt, doch die Tatsache, dass es das Internet gibt, ist nicht zu übersehen. „Wir haben uns ein wenig zurückentwickelt, fast so, als wäre das Geschäft eine technikfreie Zone.”, sagt Baird. „Es geht nicht darum, dass man die Technologie direkt vor der Nase hat, sondern darum, sie nahtlos in das Einkaufserlebnis zu integrieren.”

Mitarbeitende fördern Engagement

Für das neue Ladenerlebnis wird auch die Rolle des Verkaufenden von entscheidender Bedeutung sein. Mitarbeiter:innen sollen mit mobilen Endgeräten durch das Geschäft gehen und mit der Kundschaft interagieren, die sich daran gewöhnt hat, über einen Bildschirm einzukaufen. Mobile Einkaufswagen, die im Laden bewegt werden können und Verkäufer:innen, die die Produkte an Ort und Stelle eintüten können, machen die Kasse nicht mehr zum Mittelpunkt des Geschäftserlebnisses – sie könnte in vielen Fällen sogar komplett entfernt werden. „Wenn die Kassen aus den Geschäften entfernt werden, um den Raum zu öffnen, könnte sich das Erscheinungsbild der Geschäfte in den nächsten drei bis fünf Jahren wirklich ändern”, sagt Baird.

In der Praxis gibt es jedoch einige Herausforderungen: So muss das Gerät zum Entfernen des Sicherheitsetiketts für Mitarbeitende mobil zugänglich sein, jedoch außer der Reichweite der Kundschaft, um Diebstählen vorzubeugen.

Bedeutung von Pop-Ups

„Pop-ups sind ein Experiment in Bezug auf Ort und Format, das Labels ermöglicht, neue Märkte zu testen, bevor sie sich strategisch festlegen”, erklärt Baird. Ein aktuelles Beispiel ist die im Oktober getroffene Entscheidung des New Yorker Cupcake-Unternehmens Baked by Melissa, Boston als Standort für seine erste bundesweite Expansion zu wählen. Der Grund für die Eröffnung eines Pop-ups im Hafenviertel der Stadt resultierte aus der großen Anzahl von Bestellungen, die während der Pandemie aus Boston eingingen. So kann das Unternehmen nun testen, ob das Verhalten der Bostoner Konsument:innen über die Pandemie hinausgeht, bevor es einen langfristigen Immobilienvertrag abschließt.

Auch kurzfristige Mietverträge werden immer beliebter, um leerstehende Ladenflächen in Einkaufszentren und -straßen zu meiden. Das 2017 gegründete Unternehmen Popable will in diesem Bereich die Rolle des Vermittlers übernehmen. Die Firma arbeitet bereits mit Immobilienpartnern wie Simon, Kymco und Brookfield Property Partners zusammen und hat vor Kurzem Walmart in ihr mehr als 10.000 Marken umfassendes Portfolio aufgenommen. Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft wird Walmart Ladenfronten und zeitlich begrenzte Ladenflächen an kleine Marken vermieten, die teure Langzeitmietverträge vermeiden wollen.

Die alles entscheidende Umkleidekabine

„Wenn ich ein Unternehmen hätte, würde die Umkleidekabine im Mittelpunkt stehen”, sagt Baird. „Sie wären luxuriös und es gäbe viele von ihnen, weil ich möchte, dass sich alle dort aufhalten.” Baird beschreibt eine nicht allzu ferne Zukunft, in der die Verbraucher:innen mit dem Spiegel in der Umkleidekabine interagieren können und ihre gewünschte Größe aus einer Vakuumröhre von der Decke fällt. Der Moment des Sinneswandels findet in der Umkleide statt, daher sollte es die Priorität jedes Einzelhändlers sein, diesen Moment so angenehm wie möglich für die Kundschaft zu gestalten. Was während der Pandemie vernachlässigt wurde, wird nun eine zentrale Rolle für den Erfolg eines Geschäfts spielen.

Die Möglichkeit zur Rücknahme

Einzelhändler sollten nicht versuchen, die Rückgabepolitik von Amazon nachzuahmen, denn das wäre nicht nur unmöglich, sondern auch ein schlechter Geschäftszug. Wenn Kund:innen einen Artikel im Geschäft zurückgeben, ist dies eine Gelegenheit für Engagement, um an dieser Stelle etwas anderes zu verkaufen. „Sie wollen den Kund:innen keine Unannehmlichkeiten bereiten, aber sie wollen auch nicht, dass die Rückgabe ein unnötiger Zwischenstopp ist. Dafür gibt es einen goldenen Mittelweg”, so Baird. Ein Gespräch darüber, was an dem Artikel fehlerhaft ist und was getan werden kann, um den oder die Kund:in zufrieden zu stellen, trägt dazu bei, die Loyalität der Verbrauchenden nach der Pandemie wiederherzustellen. Es kann außerdem dazu beitragen, schlechtem, von der Pandemie beeinflusstem Verhalten entgegenzuwirken, wie dem sogenannten „Bracketing”, also der Angewohnheit, online achtlos mehrere Größen zu bestellen, eine zu behalten und den Rest zu retournieren. Um hier nachhaltiger zu handeln, könnten Einzelhändler einen Preisnachlass anbieten, wenn Artikel in der Originalverpackung zurückgeschickt werden.

Dieser übersetzte Beitrag erschien zuvor auf FashionUnited.uk. Übersetzung und Bearbeitung: Pia Schulz.

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