Hat der Einzelhandel sein Tempolimit erreicht?
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Amsterdam - Mit der Geschwindigkeit des technologischen Wandels mitzuhalten, ist eine Überlebensfrage für Einzelhändler. Doch auch bewusste Verlangsamung hat etwas Gutes. Das waren zwei der Kernbotschaften des diesjährigen World Retail Congress in Amsterdam, auf dem Branchenführer diskutierten, wie sie sich an die neuesten Handelstrends anpassen.
„Ich würde sagen, dass die größte Veränderung, die ich in den letzten 40 Jahren gesehen habe, darin besteht, dass das Tempo des Wandels buchstäblich täglich zunimmt“, sagte Lord Stuart Rose, ehemaliger Vorsitzender der britischen Kaufhauskette Marks and Spencer und aktueller Vorsitzender des Online-Supermarktes Ocado. Sicherlich befindet sich der Einzelhandel in einer Umbruchphase von gigantischem Ausmaß. Ein enormer Umstieg von Offline auf Online hat dazu geführt, dass einige Einzelhändler Mühe hatten, Schritt zu halten. Onlinehandelsgiganten wie Amazon, Zalando und Asos sind explosiv gewachsen und verfügen heute über eine enorme Reichweite im Einzelhandel.
Der unersättliche moderne Verbraucher
Die digitale Revolution spielt eine große Rolle bei der Entwicklung der heutigen Einzelhandelslandschaft und beim Vormarsch des See-It-Now-Want-It-Now-Konsumenten. „Die Kunden wollen, was sie wollen, wann sie es wollen, wie sie es wollen, und zwar über jedem Kanal, der ihnen passt. Ein weiterer kritischer Faktor hat sich ebenfalls geändert - es ist nicht mehr der Preis, den wir ihnen in Rechnung stellen, es ist der Preis, den sie bereit sind, zu zahlen“, sagte Lord Rose. Um in der Branche zu bestehen, müssen Einzelhändler bereit sein, sich an die Bedürfnisse der sich ständig verändernden Käuferbedürfnisse anzupassen. „Wenn Sie diese Nuancen, diese Trends und Dinge, die sich um uns herum abspielen, zu langsam aufnehmen, werden Sie zu den Verlierern gehören“, sagte er. „Die Welt hat sich verändert. Der Kunde ist nicht mehr König, der Kunde ist jetzt der Herrscher des Universums.“
Teamwork führt zum Erfolg
Das neue Zauberwort heißt ‘Kollaboration’, und man muss nur einen Blick auf die Zusammenarbeit zwischen der schwächelnden Warenhauskette Karstadt und dem zehn Jahre alten Online-Händler Zalando zu werfen, um zu verstehen, was das künftig bedeutet. Ab diesem Quartal wird Zalando Waren aus acht der achtzig Karstadt-Filialen verkaufen. „Die klassische Rolle des Einzelhandels für alle, die nicht im Lebensmittelbereich tätig sind, ist im Grunde genommen vorbei“, sagte Stephan Fanderl, CEO von Karstadt und Kaufhof, am vergangenen Mittwoch auf einem Panel. Wie viele Einzelhändler hat auch Karstadt die Vorteile einer Zusammenarbeit erkannt, die sich aus der Erweiterung des Kundenkreises und der Stärkung der Präsenz in einem zunehmend wettbewerbsintensiven Sektor ergeben.
Der Einzelhandel sei viel offener für die Zusammenarbeit geworden, sagte Carsten Keller, Vice President Direct to Consumer beim Berliner Unternehmen Zalando, vergangene Woche in einem Interview. Mehr als 1.000 Filialen von Partnerhändlern verkaufen derzeit ihre Produkte auf der Website Zalandos. „Das spricht sehr stark dafür, dass sich die Handelslandschaft mehr und mehr in Richtung von größeren Plattformen dreht. Also, eine Plattformökonomie, in der ehemalige Wettbewerber jetzt zusammenarbeiten.“
Auch der E-Commerce-Riese JD.com denkt darüber nach, wie er mit Marken zusammenarbeiten kann. Das Unternehmen nutzt seine umfangreichen Kundendaten, um sich mit Marken zusammenzuschließen und neue Produkte zu entwickeln, die den Wünschen der Verbraucher näher kommen, sagte Ling Chenkai, Vice President of Corporate Strategy & Investment des Unternehmens, am Donnerstag. Der chinesische Online-Händler hat ebenfalls seinen traditionellen Ansatz in seiner Wertschöpfungskette geändert und mehr externe Spezialisten einbezogen.
Risiken eingehen und den Status Quo hinterfragen
Ein weiteres Schlüsselthema, das sich in fast jedem Vortrag des Welthandelskongresses wiederfindet, war die Disruption. Um in einem sich ständig verändernden Umfeld nicht in Vergessenheit zu geraten, suchen die Einzelhändler nach Möglichkeiten, den Status quo herauszufordern.
Die niederländische Brillenmarke Ace & Tate ist ein Beispiel dafür. Das Unternehmen wurde vor fünf Jahren in Amsterdam gegründet und hat den Brillenmarkt neu definiert, indem es die Lieferkette vollständig übernommen und die Zwischenhändler ausgespart hat: Design, Herstellung und Sehtests werden alle vom Unternehmen selbst durchgeführt. Laut Mark de Lange, Gründer von Ace & Tate, kommt der explosive Erfolg des Unternehmens direkt von seiner Bereitschaft, einen anderen Ansatz als den herkömmlichen Service seiner Konkurrenten zu wählen.
„Wir bauen Loyalität durch die Erfahrung auf, die wir unseren Kunden bieten. Unsere Kunden kommen schneller zu uns zurück als zur Konkurrenz, weil sie wissen, dass sie einen guten Preis bekommen. Das ist ganz einfach“, sagte de Lange bei einem Panel am Mittwoch. „Und wenn etwas nicht stimmt, können sie es ändern lassen. Sie mögen diese Beziehung und wir haben von Anfang an in sie investiert. Ich meine, die erste Person, die wir eingestellt haben, war eine Kundenservice-Kraft.“
Der US-amerikanische Jeans-Hersteller Levi's reagiert auf seine Weise auf die neue Geschwindigkeit am Markt. Die 166-jährige Marke steigert den Individualisierungsgrad, den sie bietet, indem sie ihre Lieferkette und ihr Ladenformat umgestaltet. Der Direct-to-Consumer-Präsident der Marke, Marc Rosen, kündigte am Mittwoch an, dass er die Fertigstellung seiner Produkte auf eine spätere Phase als im traditionellen Prozess verschieben werde, so dass die Kunden ihre eigene Kleidung individuell online gestalten können. Dadurch bekommt der Einzelhandel mehr Zeit, sich zu entscheiden, welche Trends sich verkaufen werden. „Der Verbraucher verändert sich schneller als je zuvor, und die Technologie entwickelt sich schneller als je zuvor, und es liegt an uns, die Ankerpunkte zu finden und diese Gelegenheit zu nutzen“, sagte Rosen.
Levi’s Direct-to-Consumer-Präsident, Marc Rosen. Foto mit freundlicher Genehmigung des World Retail Congress
Dieser Ansatz von Levi's, wie auch der Verkauf der Zalando-Produkte durch Karstadt in den Filialen, zeigt einen wachsenden Trend, der es Einzelhändlern ermöglicht, die Kapazitäten eines Ladens voll auszulasten. Obwohl ein schneller und komfortabler Einzelhandel gefragt ist, wünschen sich die Kunden zugleich auch einladende und interaktive Räume zum Verweilen.
„Wir entwickeln uns von der Experience hin zur Konversation“, sagte George Gott, Mitbegründer und Chief Creative Officer von FutureBrand Uxus, am Mittwoch. Für den Londoner Flagshipstore der Kosmetikmarke L'Occitane installierte sein Unternehmen eine Bar, die Macarons serviert und eine Handpflegedienst anbietet, und kreierte einen Guide mit Servicegesten, die zu Ritualen destilliert wurden, an die sich die Kunden erinnern sollen. „Sie müssen die Interaktion und die Konversation, die Sie mit Ihrem Kunden führen, ändern. Dazu müssen Sie Ihre Mitarbeiter schulen und Ihre Kunden mit Markenritualen erreichen."
Entschleunigen und auf die „menschliche“ Komponente setzen
Mit der rasanten Geschwindigkeit, mit der sich die Branche entwickelt, kommt ein weiterer Trend – der Trend zur Entschleunigung. Der Philosoph Robert Rowland Smith sagte am Mittwoch, dass die Menschen, je sie desillusionierter von Marken werden, sich zunehmend für Dinge interessieren, die sie an ihre Menschlichkeit erinnern, wie Sinnhaftigkeit, Geschichten und Ideen. „Ich denke, dass die Marken und Einzelhändler, die gewinnen werden, diejenigen sein werden, die Sinn stiften können“, sagte er. „Der Konsum im industriellen Modell wird der Vergangenheit angehören.“ Smith ist der Meinung, dass die Menschen das Etikett des passiven „Konsumenten“ zunehmend ablehnen und stattdessen als „Schaffende“ gesehen werden wollen - sie werden sich als Teil der Erfahrung fühlen wollen und eine stärkere Beteiligung am kreativen Prozess durch Individualisierung suchen.
Ebenso sprach Yoox Net-a-Porter CEO Federico Marchetti vergangene Woche über die Bedeutung der Beibehaltung der menschlichen Aspekte im Einzelhandel, da die Branche immer schneller und automatisierter wird. „Wir müssen eine Entscheidung treffen, um ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Maschine herzustellen, und diese Entscheidung wird mit dem technologischen Fortschritt immer schwieriger“, sagte Marchetti. Für ihn wird die menschliche Faktor im Einzelhandel in Zukunft an Wert gewinnen; Menschen werden mehr für Produkte bezahlen, bei denen sie wissen, dass eine Person im Prozess involviert war. So sehr, dass in Zukunft ein neues Label entstehen könnte: "Made by humans". „Luxus kann nicht ausschließlich von KI-geschaffen, per Drohne geliefert oder 3D gedruckt werden“, sagte Marchetti. „Die Förderung menschlicher Talente ist eine Entscheidung, die wir alle treffen können.“
Und vielleicht sind es nicht nur die Verbraucher, die entschleunigen müssen. Laut Stewart Ashley Geschäftsführer James Rhee müssen Einzelhandelsmitarbeiter in allen Positionen mehr Zeit außerhalb der Arbeitszeit erhalten. „Jeder ist gestresst. Die Menschen atmen nicht tief und denken nicht klar. Ich denke, dass jeder etwas mehr Zeit zum Atmen braucht“, sagte Rhee bei seiner Entscheidung, alle Stunden seiner Mitarbeiter auf 40 pro Woche zu reduzieren, unabhängig von ihrer Position, um Überlastung zu vermeiden. „Auch wenn viele Leute die Zeit beschleunigen wollen, denke ich, dass das Leben verlangsamt werden sollte. Ich denke, dass wir auf diese Weise mehr Glück schaffen könnten.“
Der World Retail Congress 2019 fand vom 14.-16. Mai in Amsterdam statt.
Dieser Artikel wurde mit Hilfe von Weixin Zha geschrieben und erschien zuvor auf FashionUnited. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ
Fotocredit: Pixabay