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Ist die virtuelle Anprobe die Zukunft des Einzelhandels?

Von Rachel Douglass

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Einzelhandel

Perfect Corp VTO, Schmuck. Bild: Perfect Corp

Die Einzelhandelslandschaft entwickelt sich zweifelsohne mit den sich ständig wandelnden Ansprüchen der Menschen weiter. Dazu gehören auch technologische Entwicklungen, die mit den Interessen und Verhaltensweisen der jüngeren Generationen einhergehen. Eine solche Entwicklung ist die virtuelle Anprobe – auch ‚VTO‘, für ‚Virtual Try-On‘ genannt –, die nicht nur die Welt des E-Commerce erobert hat, sondern auch langsam in den physischen Einzelhandel vordringt.

VTO bezieht sich speziell auf die Anprobe von Kleidung am Bildschirm, meist unter Verwendung einer Kamerafunktion auf einem Telefon oder Tablet. Eine Augmented-Reality-Technologie (AR) ermöglicht es den Kund:innen, Kleidungsstücke in einem digital erzeugten Overlay auf einem realen Video von sich zu betrachten. Es gibt bereits zahlreiche Plattformen, die diesen Service anbieten, darunter auch Instagram und Snapchat, die sich beide als Vorreiter in der AR-Technologie etabliert haben. Ihre breite Palette von Filtern, beispielsweise für Kosmetik oder Accessoires, ist nichts anderes als eine Art VTO.

Beide Plattformen haben bereits mit Marken und Einzelhändlern zusammengearbeitet, um VTO zu den Menschen nach Hause zu bringen. Einige Technologieunternehmen, die in diesem Bereich auf dem Vormarsch sind und speziellere VTO-Angebote auf den Markt bringen, sollen die Interaktion und den Umsatz mit diesen Tools fördern.

Eines dieser Unternehmen ist Perfect Corp, ein am New York Stock Exchange notiertes Unternehmen, das sowohl Mode- als auch Beauty-Einzelhändler:innen mit Augmented Reality Try-Ons versorgt. Die Idee für das Unternehmen entstand ursprünglich aus dem Wunsch heraus, Kosmetika problemlos online zu kaufen. Dieses Problem war der Gründerin Alice Chang, die heute CEO ist, sowohl als Konsumentin dieser Produkte als auch in ihrer früheren Funktion als CEO des Softwareunternehmens CyberLink begegnet. Hier lernte sie Wayne Liu kennen, der heute als Chief Growth Officer und President von Perfect Corp agiert. Er arbeitet seit über sieben Jahren an der Seite von Chang.

VTOs erlebten einen langsamen Aufstieg

Der Start von Perfect Corp in 2015 brachte keine sofortigen Erträge. Zu dieser Zeit war die Digitalisierung ein brandneues Konzept, das in der Branche noch nicht als ‚Muss‘ galt. „Wir halten die Technologie für ziemlich disruptiv“, sagt Liu im Gespräch mit FashionUnited. „Wir versuchen, zu visualisieren und zu digitalisieren. Ganz am Anfang, als wir an Marken herantraten, waren sie oft misstrauisch. Sie haben nicht daran geglaubt, dass man die Farbe oder die Form ihrer Produkte realitätsgetreu darstellen kann. Wir haben viele Hürden überwunden, wie beispielsweise die Entwicklung von Produkten mit adaptiver Beleuchtung oder die Abbildung eines natürlichen Hauttons. Wir arbeiten mit unserem Partner:innen weiter an der Verbesserung der Technologie, sodass all diese Herausforderungen zu Chancen werden. Das zeichnet uns aus.“

Perfect Corp OurAR Plattform. Bild: Perfect Corp

Nun hat Perfect Corp mit über 500 Marken an der Implementierung von Virtual Reality (VR) und AR-Produkten gearbeitet, die alle nach der Anwendung der Technologie eine höhere Konversionsrate vermeldet haben sollen. Das Unternehmen bietet heute eine breite Palette von Produkten an, aber sein Ursprung liegt in der Kosmetikbranche. Für diese stellt es virtuelle Make-up-Anproben, Farbabstimmungsdienste für Grundierungen und Hautanalysetools mit künstlicher Intelligenz (KI) zur Verfügung und arbeitet bereits mit Avon, Mac Cosmetics und Douglas zusammen. Für Marken, die diese Funktionen einsetzen, ergeben sich laut Liu verschiedene Vorteile. Erstens gebe es eine durchschnittliche Steigerung der Conversion Rate von etwa 50 Prozent. Gleichzeitig soll die Kund:innenbindung um das Vierfache ansteigen, während die Größe des Warenkorbs um durchschnittlich 15 Prozent zunimmt. Kund:innen verbringen mehr Zeit auf der Website, um die virtuellen Optionen zu erkunden. Zu guter Letzt kann die Möglichkeit, Waren vor dem Kauf auszuprobieren, auch zu einer Verringerung der Retourenquote führen.

Ein ähnliches Feedback gab es auch für die Events in der Modebranche, einem relativ neuen Bereich für Perfect Corp, das erst im Januar 2022 VTO-Optionen für Uhren einführte und im Laufe des Jahres weitere Schmuckprodukte hinzufügte. „Im Bezug auf die Umsatzzahlen haben die Verbraucher:innen ihr Einkaufsverhalten aufgrund der Pandemie geändert“, so Liu. „Normalerweise wollten sie Schmuck in echt sehen, aber während der Pandemie war das nicht möglich. Hier war VTO ein Vorteil, denn man konnte online Dinge anprobieren, was das Vertrauen, den Umsatz und die Verweildauer auf den Webseiten erhöht hat.“

Auch wenn AR noch nicht überall angekommen ist, sind die meisten jungen Menschen bereits mit der Technologie vertraut. Liu merkte an, dass die Attraktivität dieser Produktvisualisierung größtenteils auf ihren visuell fokussierten Sehgewohnheiten und den Wunsch nach personalisierten Einkaufsfunktionen zurückzuführen ist. Diese sind vor allem bei der Generation Z und den Millennials stark ausgeprägt.

In Sachen Umsetzung können die Dienstleistungen auch je nach Marke variieren, wobei die von Perfect Corp angebotenen Produkte je nach Bedarf angepasst werden. Das Unternehmen arbeitet meist dem Technik- und Designteam eines Unternehmens zusammen, um die Lösung zu visualisieren, die es benötigt.

Physischer Einzelhandel läutet neue Welt der digitalen Anprobe ein

Zero10 ist ebenfalls ein Unternehmen, das den Einsatz der AR-Anprobetechnologie zum Kern hat, allerdings ausschließlich in der Mode- und Bekleidungsbranche. George Yashin, CEO von Zero10, hat seit der Gründung des Unternehmens seine Fähigkeiten über die reinen VTO-E-Commerce-Lösungen hinaus erweitert, um das Konzept auf weitere Bereiche zu auszuweiten. Ein Beispiel dafür ist ein AR-Mirror, den das Unternehmen erst vor vier Monaten vorgestellt hat. Der Spiegel, der sich noch im Entwicklungsstadium befindet, ermöglicht es den Menschen, sich selbst in einem Produkt auf einem interaktiven Bildschirm zu sehen, der als Kampagnenplakat, in einem Schaufenster oder als VTO in Geschäften aufgestellt werden kann.

Zero10 AR Fashion Platform App. Bild: Zero10

„Im ersten Schritt könnte der AR-Mirror als interaktives Schaufenster genutzt werden, um neue Kundschaft anzuziehen und die Kund:innenfrequenz zu erhöhen, oder er könnte in den Laden integriert werden, um Anproben zu ermöglichen, ohne Umkleidekabinen zu benutzen. Durch die digitale Anprobe können Kund:innen eine Marke auf einer tieferen Ebene erkunden und sich mit ihr auseinandersetzen.“ Neben diesen Möglichkeiten wies Yashin auch auf die Fähigkeit des Spiegels hin, Marken Datensätze über ihre Kundschaft zur Verfügung zu stellen, um deren Verhalten zu analysieren und so Erkenntnisse zu gewinnen, die die Konversionsraten steigern und Marketingstrategien beeinflussen könnten. Yashin will den Spiegel nun zu einem freistehenden Pop-up-Produkt weiterentwickeln, das nahezu an jedem Ort aufgestellt werden kann. Das Feedback von Industriepartner:innen und Verbraucher:innen soll dabei in den Entwicklungsprozess einfließen.

Auch Perfect Corp setzt auf den physischen Einzelhandel. In der Tat war es diese Branche, in der das Unternehmen zuerst Wurzeln schlug. Sein virtueller Testassistent für die Kosmetikbranche wurde dort eingeführt. Das Produkt, das auch heute noch verwendet wird, ist vor allem im Reiseeinzelhandel beliebt, beispielsweise an Flughäfen, wo kurze Einkaufszeiten über Käufe entscheiden. Während der Pandemie hatten sich Einzelhandelsunternehmen zunehmend darauf verlegt, hybride Lösungen in ihre Geschäfte zu integrieren, wie QR-Codes, oder sich auf Investitionen im E-Commerce konzentriert.

Für Perfect Corp sind es vor allem größere Marken, oder Marken in der Luxusbranche, die die VTO-Revolution anführen und den Bereich aggressiv erschließen, um sich die Spitzenposition zu sichern und ihrer Kundschaft ein neues Erlebnis zu bieten.

Eine ähnliche Strategie fährt auch Zero10. Das Unternehmen konzentriert sich ebenfalls auf Partnerschaften mit hochwertigen und luxuriösen Bekleidungsmarken, von denen viele bereits eine Form von hausinternen 3D-Designabteilungen besitzen und Interesse an der Einführung der Technologie gezeigt haben. Yashins Plan ist es, die AR-Spiegel als „ganzheitliche, technologiegesteuerte Lösung“ mit den ersten Partner:innen zu implementieren, bevor das Konzept auf weitere Nischenmarken ausgeweitet wird. Die Pilottechnologie wird zunächst im März dieses Jahres für Kundschaft in den USA und der EU verfügbar sein, darunter auch bei Coach. Das US-amerikanische das US-amerikanische Taschen- und Modelabel gehört zu den ersten Partner:innen von Zero10. Yashin fügte hinzu: „Auf der Grundlage unserer jüngsten Testprojekte können wir bestätigen, dass Marken, die AR-Schaufenster in ihren Einzelhandel integrieren, einen deutlichen Anstieg der Besucherzahlen in ihren Geschäften verzeichnen können.“

Zero10 AR Fashion Platform App. Bild: Zero10

Die Pandemie hat einen Anstieg hybrider Einzelhandelserlebnisse ausgelöst

Der AR Mirror erweitert das bereits weitreichende Angebot von Zero10, das auch eine App und AR Fashion Platform umfasst, eine Website, auf der Designer:innen, Marken und Nutzer:innen digitale Kleidung entwerfen, teilen und anprobieren können. Darüber hinaus hat das Unternehmen vor kurzem das Zero10 Software Development Kit (SDK) veröffentlicht, mit dem Marken AR-Anproben direkt in ihr Angebot integrieren können.

Laut Yashin plant das Unternehmen gerade seine erste Integration des Kits, aber er merkte an, dass der Zweck des Produkts bereits feststehe. „Wir helfen dabei, das Problem des Anprobierens von Kleidung beim Online-Shopping zu lösen und zeigen den Kund:innen, wie ein Kleidungsstück an ihnen aussehen würde und wie es zu ihrer aktuellen Garderobe passen könnte.“

Schließlich hofft Zero10, durch seine technischen Lösungen, die jeweils die firmeneigene AR-Technologie nutzen, dazu beitragen zu können, die Interaktion zu erhöhen, das Einkaufserlebnis zu verbessern und eine jüngere, technikaffine Zielgruppe anzuziehen – nämlich die Gen Z und Gen Alpha. „Ich glaube, dass die digitale Mode das nächste Must-have in der Modeindustrie sein wird und sich in der nächsten Phase ihrer Entwicklung befindet“, so Yashin. „Ich würde den derzeitigen Stand [dieser Technologie] mit der Anfangsphase des Online-Handels vergleichen. Es ist etwas Neues, mit riesigem Potenzial, und wenn Sie es nicht haben oder nicht nutzen, werden Sie in drei bis fünf Jahren verschwunden sein. Die Branche hat den Pfad der Digitalisierung eingeschlagen und kann das nicht mehr rückgängig machen. Der einzige Weg besteht darin, zu experimentieren und nach einem Mehrwert für die Marken und die Kund:innen zu suchen.“

Perfect Corp hofft unterdessen, in die Bereiche Hautpflege und Haarpflege zu expandieren und auf dem aufzubauen, von dem Liu glaubt, dass es zum Treiber des digitalen Wandels wird. Dies hängt für ihn auch damit zusammen, wohin sich die Branche in nicht allzu ferner Zukunft entwickeln wird. Er ist fest davon überzeugt, dass die Macht der künstlichen Intelligenz noch unterschätzt wird: „VTO kann nicht ohne KI auskommen, das ist einfach die Realität. Mit einer KI-Komponente wird eine Maschine ein Werkzeug, das versucht, zu lernen und Präferenzen zu verstehen. Sie wird zu einem Beratunginstrument, das den Kund:innen die besten Produkte empfehlen kann. Deshalb bieten wir viele neue Technologien, die AR und KI vereinen, und intelligente VTOs, die auch virtuelle Beauty-Beratung liefern können. Die Zukunft liegt definitiv in dieser hybriden Kombination.“

Sein Rat für Marken und Einzelhändler:innen: „Wenn Sie das noch nie gemacht haben, empfehlen wir Ihnen, wie bei jedem anderen Technologieprojekt, mit etwas Kleinem anzufangen. Sie müssen einen Konzeptnachweis erbringen, der kontrollierbar und messbar ist. Definieren Sie Ihre eigenen KPIs und führen Sie eine kurze Machbarkeitsstudie durch. Wenn es scheitert, ist es noch überschaubar, aber wenn es funktioniert, was meistens der Fall ist, dann werden Sie expandieren wollen und einen Plan entwickeln, um schnell zu skalieren.“

Dieser Artikel wurde auf FashionUnited.uk veröffentlicht. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Barbara Russ

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