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Die vielen Leben eines Kleidungsstücks: Erinnerungen als nachhaltiges Geschichtenerzählen in der Modeindustrie

Von Nora Veerman

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Mode |HINTERGRUND

Ein Mantel aus einer Wolldecke, Hul Le Kes Herbst-Winter 2021. Bild: Hul Le Kes über Spice PR

Auf den ersten Blick ist es ein einfaches Kleid: ein klassisches Modell, gerade geschnitten und schwarz, mit einem Bootsausschnitt. Doch dann beginnt die Besitzerin – eine Frau mit einem sympathischen Gesicht und braunen Locken – zu erzählen. Sie kaufte das Kleid in jungen Jahren im Outlet-Store Marshalls. Es wurde ihr Lieblingskleid: Sie nahm es zu allen falschen Partys in Las Vegas mit. Jetzt, mit zunehmendem Alter, erinnert es sie an das wilde Kind, das sie einst war, und an ihr Heranwachsen seitdem.

Die Frau – oder das Kleid, je nachdem, wie man es betrachtet – ist eine der Charaktere in der Netflix-Serie Worn Stories. In der achtteiligen Serie erzählen "normale" Menschen von geliebten Kleidungsstücken und ihren damit verbundenen Erinnerungen. Durch ihre Geschichten werden die Kleidungsstücke zum Leben erweckt. Sie werden zu Charakteren, zu Persönlichkeiten.

Das Leben von Kleidungsstücken hat in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen: in Serien und Büchern wie "Worn Stories" und "Women in Clothes", aber auch in der Modeindustrie. Das Erzählen von Geschichten, auch Storytelling genannt, ist seit jeher ein wichtiger Bestandteil des Marketings: Die Schaffung einer kohärenten "Markengeschichte" ist eine der Säulen des Brandings. Aber neben den Markengeschichten werden nun auch zunehmend die Geschichten einzelner Kleidungsstücke erzählt. Wie kommt es dazu, und was bedeutet das?

Tragbare Geschichten

Ein aktuelles Beispiel war das Projekt ReShare Your Memories, eine Initiative der gemeinnützigen Organisation Leger des Heils ReShare im Rahmen der Second-Hand-Textilwoche im April. Im Vorfeld der Secondhand-Textilwoche konnten alle, die in den ReShare-Laden kamen, um Kleidung abzugeben, dazu eine kleine Geschichte auf eine Karte schreiben. „Ich habe dieses Kleid in Curacao gekauft. Ich habe es an einem der schönsten Geburtstage getragen, die ich je gefeiert habe. Gutes Wetter, gutes Essen und stundenlanges Tanzen", schrieb eine Frau bei einem Sommerkleid dazu. „Ich trug diese fantastische Hose, als ich meine Frau beim Kanufahren kennenlernte", schrieb ein Mann über eine Hose.

Der ReShare-Store im niederländischen Dordrecht. Bild: Leger des Heils ReShare
Thamar Keuning, Marketingbeauftragte bei Leger des Heils ReShare, sprach im April im Interview mit FashionUnited über das Projekt. „In der Vergangenheit war Kleidung kommerziell viel mehr wert als heute. Jetzt ist es zu einem Wegwerfprodukt geworden. Wir haben uns gefragt: Wie können wir diesen Wert zurückbringen?" Geschichten waren die Antwort. „Wenn man sieht, was darin erlebt wurde, ist das Kleidungsstück viel mehr wert als nur ein Stück Stoff", sagte Keuning. Das Projekt wurde ein Erfolg. Keuning: „Die Leute, die so ein Kleidungsstück kaufen, finden es schön, dass sie eine Erinnerung in den Händen halten.”

Eine Bluse mit einem Pass

Ein niederländischer Designer, der sich seit langem mit den Geschichten von Kleidungsstücken beschäftigt, ist Sjaak Hullekes. 2018 gründete er die Marke Hul Le Kes, für die er Kleidungsstücke aus überzähligen Stoffen und antiken Materialien wie alter Tischwäsche und Wolldecken herstellt. Oft ist die Geschichte des Textils noch im Kleidungsstück zu sehen: Die von den Vorbesitzern in die Tischwäsche gestickten Initialen entfernt Hullekes nicht, sondern arbeitet sie bewusst in eine Brusttasche oder einen Kragen ein. Er lässt die abgenutzten Stellen als das stehen, was sie sind – sie verleihen dem Material Charakter. Jedes Kleidungsstück sagt: Ich habe ein ganzes Leben hinter mir.

Zugleich ist Hul le Kes ein Ausgangspunkt für neue Geschichten. Jedes gekaufte Kleidungsstück erhält einen eigenen Pass: ein Heft, in dem der Träger festhält, wann und wie er es getragen hat. „Mit diesem 'Pass' wollen wir die Erinnerungen lebendig halten", sagte Hullekes 2018 in einem Interview mit der Nachrichtenseite Metro. „Denken Sie an ein besonderes Kleid, das Sie in einem Geschäft in Frankreich während eines Urlaubs mit Ihrer Mutter gekauft haben. Vielleicht haben Sie es speziell für die Hochzeit eines Freundes getragen? Hinzu kommt der emotionale Wert Ihres Kleidungsstücks. Ich sehe Kleidung ein bisschen wie alte Fotos. Wie Fotos wecken auch alte Kleider Erinnerungen". Diese Erinnerungen bilden also eine zusätzliche Wertschicht, die zum materiellen Wert des Kleidungsstücks hinzukommt. Ein Stück "Inspiration", wie Hullekes es nennt.

Indem sie Kleidungsstücke als Träger von Emotionen und Erinnerungen betrachten und Unvollkommenheit und Abnutzung als Teil davon ansehen, werden die Menschen ihre Kleidung nicht so leicht wegwerfen und sie eher reparieren, glaubt Hullekes. Gleichzeitig betonen die Geschichten jedes Kleidungsstücks Individualität und Authentizität: Aspekte, die Konsumenten ansprechen, die auf der Suche nach Alternativen zu massenproduzierter Kleidung sind.

Die Jeans als Liebesbrief

Auch die dänische Modemarke Ganni brachte eine Art von Passport für Kleider heraus, allerdings in einer modernen Version. Diese "Pässe" wurden in Chips eingeschlossen und in die Etiketten der Denim-Kollektion "Love Letter" eingearbeitet, die Ganni 2020 in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Jeans-Hersteller Levi's entwickelt hat. Die Artikel der Kollektion konnten nur gemietet werden. Die Träger konnten ihr Smartphone an das Etikett auf der Rückseite des Kleidungsstücks halten und die Geschichte des Kleidungsstücks in Form von Geschichten früherer Mieter einsehen. Sie konnten auch selbst zur Chronik beitragen, indem sie über Instagram oder eine speziell entwickelte App Fotos oder Anekdoten beisteuerten.

Die Ganni x Levi's 'Love Letter'-Kollektion. Bild: Ganni

Laut Ditte Reffstrup, Kreativdirektorin bei Ganni, war die Kollektion ein "Liebesbrief" an die Levi's-Denim-Tradition, aber auch eine Möglichkeit, verschiedene Ganni-Trägerinnen miteinander zu verbinden. Die Vogue bezeichnete die Kollektion als "The Sisterhood of the #GanniGirl Traveling Pants", in Anlehnung an den berühmten Film, in dem sich vier junge Frauen eine Jeans teilen, die ihnen auf magische Weise genau passt – und sie miteinander verbindet. Die Denim-Hose als Liebesbrief. Gleichzeitig könnte die Kollektion auch als Liebesbrief an das Kleidungsstück gelesen werden, als etwas, das Wertschätzung verdient und Erinnerungen wecken kann.

Anfang Mai veröffentlichte die belgische Zeitung Knack einen Artikel mit sechs wortwörtlichen Liebesbriefen an Kleidungsstücke, geschrieben von verschiedenen Knack-Journalisten und Modeexperten. Der Artikel basiert auf einem Projekt der französischen Designerin und Aktivistin Lucie Chaptal, die eine Zeit lang Briefe an ihre eigenen Kleidungsstücke schrieb, "um uns daran zu erinnern, dass Kleidungsstücke keine Wegwerfprodukte sind, sondern Gegenstände mit einer Geschichte", so Knack. Die Briefe in Knack waren persönlich und intim: Sie schienen eher Briefe an alte Freunde oder entfernte Lieben zu sein als Briefe an 'Gegenstände'.

Geschichten und Erinnerungen verleihen Kleidungsstücken eine Persönlichkeit und verleihen einem materiellen Gegenstand einen immateriellen Wert – das gilt auch für Markengeschichten. Auffallend ist, dass in der Modebranche Kleidungsgeschichten oft im Zusammenhang mit der Wiederverwendung auftauchen: beim Recycling alter Materialien oder der Weitergabe von Kleidung über einen Second-Hand-Laden oder ein Verleihmodell. Die Motivation für das Erzählen dieser Geschichten ist oft eine Philosophie der Nachhaltigkeit und die Überzeugung, dass ein individuelles Kleidungsstück mit einer Geschichte per Definition länger in Ehren gehalten wird. Ob das zutrifft, bleibt abzuwarten. Aber schön ist es allemal.

Dieser übersetzte Beitrag erschien zuvor auf FashionUnited.nl.

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