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Geschlechter-Binarität: Die nächste Grenze der Mode

Von Gastautor:in

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Mode
Gucci HW 22/23 | Bild: IMAXtree

Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts haben Meilensteine der Gleichberechtigung und Inklusion, angeführt von Persönlichkeiten der queeren und der feministischen Bewegung, das Verständnis dafür gefördert, dass Menschen, egal welchen Geschlechts, gleichwertig sind und gleichberechtigt sein sollten. Mit der wachsenden Akzeptanz der Tatsache, dass Geschlechtlichkeit nicht binär, sondern ein Spektrum ist, identifizieren sich immer mehr Menschen als nicht-binär, transsexuell oder geschlechtsuntypisch. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Diskurse zwar gerade eine neue Öffentlichkeit finden, dass aber geschlechtsneutrale Menschen von verschiedenen Kulturen auf der ganzen Welt seit Jahrtausenden anerkannt und sogar verehrt wurden – und dass die heutige westliche Gesellschaft gerade erst aufholt.

Über
Fashion Snoops ist eine Agentur für globale Trendprognosen, die führenden Marken auf der ganzen Welt hilft, Innovationen zu entwickeln und ihr Wachstum voranzutreiben. Dieser Bericht über geschlechtsspezifische Kleidung wurde von Danny Goldstein, Womenswear Strategist bei FS, und Nico Gavino, Analyst für Kultur und Consumer Insights bei FS, verfasst. Mehr über Fashion Snoops hier.

Für die heutige Generation spielen Social-Media-Plattformen wie TikTok eine entscheidende Rolle bei der Schaffung eines sicheren Raums für queere Menschen, um Gemeinschaft zu finden und neue Wege in einer Welt zu beschreiten, die historisch gesehen für sauber abgegrenzte, binäre Identitäten ausgelegt ist. ALOK ist Modeschöpfer:in, Schriftsteller:in und Redner:in und hat die #DeGenderFashion-Bewegung ins Leben gerufen, bei der Soziale Medien genutzt werden, um digitale Plattformen und Gemeinschaft durch Zugehörigkeit aufzubauen. Als Reaktion auf Bemühungen wie dieser entwickelt die Modeindustrie Produktlinien, die als „geschlechtsübergreifend“, „geschlechtsneutral“, „geschlechtslos“ und „genderfluid“ vermarktet werden. Während viele dieser Kollektionen auf übergroße und unförmige Silhouetten in neutralen Farben zurückgreifen, die in erster Linie eine klassisch männlich konnotierte Optik bevorzugen, ist das Übernehmen einer Fluidität, die geschlechtliche Ausdrücke vermischt, entscheidend für den Fortschritt dieser Bewegung.

Hier gehen wir auf die aktuellen Veränderungen und Innovationen ein, die die Zukunft der geschlechtergerechten Kleidung vorantreiben und sie als neuen Industriestandard mit klaren Auswirkungen auf Laufsteg, Einzelhandel, Design, und Nachhaltigkeit weiter festigen werden.


Die Laufstege sind offen für Genderfluidität

In den letzten Jahren haben sich die traditionellen Laufstege von einer exklusiven Veranstaltung zu einer diverseren Erfahrung gewandelt, die die Tore für andersartige Menschen öffnet. Dieser zeitgemäßere Ansatz ist zum Teil auf den Einfluss der sozialen Medien auf den kulturellen Zeitgeist zurückzuführen, da Live-Streams von Shows und Laufsteg-Looks, die in Echtzeit gepostet werden, inzwischen zur Norm geworden sind. Dies hat den Konsum von Mode demokratisiert und zu neuen Perspektiven geführt, die den traditionellen Laufsteg infiltriert haben – nämlich, dass die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht auf einem Spektrum verortet ist.

2020 kündigte der British Fashion Council an, dass die Londoner Modewoche offiziell zu einer geschlechterübergreifenden Plattform übergehen wird – ein Ansatz, der physische Schauen mit digitalen Präsentationen kombiniert und Damenkollektionen und Herrenmode zusammenbringt. Mehr als je zuvor zeigen Luxusunternehmen und aufstrebende Marken Transgender- und nicht-binäre Models sowie Körper in allen Formen und Größen neben heterosexuellen und cis-Models auf dem Laufsteg. Dies stellt eine angemessene Repräsentation von Randgruppen in den Vordergrund und repräsentiert die vielfältige Realität der Menschheit.

Collina Strada HW 22/23 | Bild: IMAXtree

Während der letzten Herbst/Winter 22/23 Damen-Laufstegsaison modelte das schwarze, antiguanisch-amerikanische Model mit Behinderung und Transfrau Aaron Rose Philip für Collina Strada, eine Marke, die auf den Werten der Förderung sozialer Belange und des Bewusstseins für Genderfluidität basiert. ‚Euphoria‘-Star und Transfrau Hunter Schafer lief bei der Prada-Show in einem außergewöhnlichen weißen Tanktop über den Laufsteg, das mit einem zarten, bestickten Midirock kombiniert wurde. Das weiße Tanktop, das in dieser Saison auf vielen Laufstegen zu sehen war, zeigt die Neuinterpretation eines traditionell mit Herrenmode assoziierten Kleidungsstücks durch Frauen - mit einer deutlichen Anspielung auf die queere Community. Ein weiteres Beispiel ist das Minikleid von Coperni, das komplett aus upgecycelten Anzugkrawatten besteht. Dieses fortschrittliche Design ist ein weiterer Beweis dafür, wie Modeschaffende Damenmode neu interpretieren, indem sie männlich konnotierte Kleidungsstücke auf frische und moderne Art und Weise wiederverwenden. Die Tatsache, dass der geschlechtsneutrale Designer Harris Reed das Cover von Harper's Bazaar UK im April 2022 ziert, zeigt, dass der Neustart der Branche in vollem Gange ist.

Prada HW 22/23 | Bild: IMAXtree

Einzelhandel: Sicher einkaufen ohne Geschlechtergrenzen

Die Gestaltung von Einzelhandelsgeschäften wurde lange Zeit durch die Unterteilung in Damen- und Herrenabteilungen bestimmt. Angefangen bei der Produktauswahl bis hin zur Präsentation und dem Styling der Schaufensterpuppen gibt es eine klare Abgrenzung, was für wen gedacht ist – eine fast unsichtbare Grenze, die nicht überschritten werden konnte – bis jetzt. Die Gestaltung des physischen Einzelhandels und der digitalen Einkaufsumgebungen wird modernisiert, um geschlechtsspezifische Merchandising-Strategien zu überwinden und eine sichere Einkaufsumgebung für alle Identitäten und Ausdrucksformen zu schaffen.

Gucci FW 22/23 | Bild: IMAXtree

Zur Avantgarde geschlechtergerechter Einzelhandelskonzepte gehörte das Londoner Einzelhandelsunternehmen Selfridges, das 2015 ein geschlechtsneutrales Einkaufserlebnis mit dem Titel „Agender“ einführte, bei dem die Produkte nach Farbe, Artikel, Passform und Stil und nicht nach Geschlecht sortiert wurden – eine Merchandising-Taktik, die auch heute noch als Leitprinzip dient. Im Jahr 2020 eröffnete Adidas ein neues Geschäft in London, das sein klassisches Einzelhandelsmodell neu erfand und die Produkte nach der Sportart, für die sie entwickelt wurden, und nicht nach dem Geschlecht sortierte. Das Modehaus Gucci, das sich im Besitz von Kering befindet, führte 2020 Gucci Mx ein, einen geschlechtsneutralen Einkaufsbereich in seinem Onlineshop, der eine kuratierte Auswahl an genderfluiden Stücken bietet, die von Models aller Identitäten und Geschlechter getragen werden.

Außerdem bietet das Online-Shopping dem Publikum den Raum, sich frei nach den Dingen umzusehen, die sich für sie am natürlichsten anfühlen – ohne Angst vor einem Urteil anderer. Ssense, der Luxus-Onlineshop, bietet strategisch Herrenmode in seiner Damenmodeabteilung an und umgekehrt, um alle Geschlechter anzusprechen. Im Jahr 2021 wurde Ssense Kids eingeführt, eine neue Abteilung mit geschlechtsneutraler Kleidung, Accessoires und Schuhen für Kinder, sowie Kapselkollektionen, die in Zusammenarbeit mit Marken wie Collina Strada, dem Museum of Peace & Quiet und Acne Studios entworfen wurden.

Design: Überarbeiten und rekonstruieren

Die derzeitige Methodik des Modedesigns beschränkt sich weitgehend auf geschlechtsspezifische Vorstellungen von Kleidung. Das macht es für geschlechtsuntypische Menschen schwierig, Kleidung zu finden, die ihre Identität bestätigt, was Körper- und Geschlechtsdysphorie weiter anheizen kann. Dies zeigt, dass unsere derzeitige und vorherrschende Art des Designs noch nicht für alle zugänglich ist.

Marken, die von LGBTQ+-Menschen und von Frauen geführt werden, arbeiten seit Jahren daran geschlechtergerechte Designs voranzubringen. Seit 2013 entwirft die Marke TomboyX Unterwäsche, Kleidung und Activewear für alle Größen und Identitäten. Ihre anpassungsfähige Kleidung für transsexuelle und geschlechtsuntypische Menschen bietet auch ein breites Spektrum an Größen, die bis zu 6X reichen. Die nächste Generation von Designschaffenden sowie aufstrebende Marken versuchen zunehmend, die Zukunft des Designs neu zu gestalten, um alle Menschen anzusprechen – unabhängig vom Geschlecht. Die in Los Angeles ansässige Marke No Sesso, italienisch für „no sex/no gender“ (kein Geschlecht), hat Inklusivität in die DNA ihres Designprozesses eingebaut. Ihre Mission ist es, Menschen aller Farben, Formen und Identitäten zu stärken, indem sie tragbare Stücke für alle kreieren. 2019 zeigte die Gründerin und Chefdesignerin Pia Davis ihre erste Kollektion auf der New York Fashion Week und war somit die erste schwarze und transsexuelle Designerin auf dem offiziellen CFDA-Kalender. Die finnische Designerin Ella Boucht entwirft maßgeschneiderte Kleidungsstücke, in deren Mittelpunkt nicht-binäre, transsexuelle und geschlechtlich fließende Menschen stehen. Schon als Studentin hat Ella Boucht geschlechtliche Binaritäten in Frage gestellt, indem sie die Schnittmuster für Damen- und Herrenmode miteinander kombinierte.

No Sesso FW 22/23 | Bild: IMAXtree

Das traditionelle binäre Denken hat jahrhundertelang das Design geprägt und nicht nur die Inklusivität verhindert, sondern auch das Potenzial für Innovation und Neuartigkeit, das Designer:innen und Marken weiterhin bieten können. Indem sie außerhalb dieser Binarität entwerfen, können Marken die spezifischen Passformen integrieren und Kleidungsstücke mit der Flexibilität anbieten, die transsexuelle und geschlechtsvariable Menschen benötigen.

Eine nachhaltige Lösung

Neben der identitätsstiftenden Rolle, die Kleidung für Menschen spielen kann, ist sie auch eine mögliche Lösung für den Aufbau einer nachhaltigeren Modeindustrie. So geben geschlechtsübergreifende Bekleidungslinien den Marken die Möglichkeit, weniger zu produzieren und eine größere Zielgruppe zu bedienen, wodurch letztendlich weniger Abfall anfällt.

Wie bereits erwähnt, ist die Suche nach der richtigen Größe und Passform nach wie vor ein Haupthindernis für die Kundschaft, die außerhalb der geschlechtsspezifischen Abteilungen einkaufen möchte, und schlecht sitzende Kleidungsstücke machen einen erheblichen Prozentsatz der Retouren aus. Durch die Entwicklung anpassungsfähigerer Kleidungsstücke und größengerechter Kollektionen für alle Identitäten können Marken die Retourenquote senken und damit auch ihren ökologischen Fußabdruck verringern. Geschlechtsfluide Kollektionen haben auch das Potenzial, eine Sharing Economy zu fördern, in der Kleidungsstücke zwischen Menschen unterschiedlicher Geschlechteridentitäten weitergegeben werden, was die Wiederverwendung erleichtert und den Lebenszyklus von Kleidungsstücken verlängert. Ein großartiges Beispiel dafür ist der Peer-to-Peer-Marktplatz und die mobile Shopping-App Depop – ein geschlossenes System und eine Gemeinschaft, die es Menschen ermöglicht, sich auszutauschen und gegenseitig zu unterstützen. Die Suchfunktion der App macht es der LGBTQ+-Community leicht, Artikel außerhalb ihrer geschlechtsspezifischen Kategorien zu finden.

Ludovic de Saint Sernin FW 22/23 |Bild: IMAXtree

Auch Direct-to-Consumer-Marken wie Big Bud Press und Older Brother verbinden in ihrer Kleidung ein Ethos der Nachhaltigkeit mit Geschlechtergerechtigkeit. Der französische Designer Ludovic de Saint Sernin bringt geschlechtergerechtes Design auf den Laufsteg und hält dabei konsequent an seinen nachhaltigen Designprinzipien fest. Der Designer, der für die Rückverfolgbarkeit von Kleidungsstücken mit dem Woolmark Prize ausgezeichnet wurde, fordert den Workwear-Look im Bereich der nachhaltigen Mode mit einer sexy und minimalistischen Ästhetik heraus.

Von den Designer:innen auf dem Laufsteg bis hin zu Einzelhandels- und E-Commerce-Marken, die direkt an die Verbraucher:innen gerichtet sind, gibt es ein großes Potenzial für die Entwicklung geschlechtergerechter Kleidung, um eine nachhaltige und gerechte Zukunft für alle zu schaffen – über die globalen Pride-Feiern hinaus. Da die Modeindustrie weiterhin mit wirtschaftlicher Not, fehlenden Ressourcen und einem zu schnellen Zeitplan konfrontiert ist, der zu einer Überproduktion führt, kann geschlechtergerechte Kleidung zu einer Lösung beitragen, die die Branche braucht, indem sie einen langsamen Ansatz verfolgt und mit Mitgefühl, Gemeinschaft und Inklusion vorangeht.

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Dieser Artikel wurde zuvor auf FashionUnited.uk veröffentlicht. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ

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