Klare Linien, knappes Angebot: Boom der Herrenmode offenbart gravierende Qualifikationslücken auf dem Markt
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Eine Welle maskuliner Raffinesse schwappt durch die Mode. Angetrieben wird sie von anspruchsvollen Verbraucher:innen, die sich nach gut gemachter Kleidung sehnen. Genährt durch eine neue Wertschätzung für Qualität und Tradition ist dies jedoch nicht nur eine vorübergehende Modeerscheinung – Analyst:innen sagen voraus, dass der weltweite Markt für Herrenmode bis 2028 ein Volumen von 642,95 Milliarden US-Dollar erreichen wird.
Doch der Haken an der Sache ist, dass diese boomende Branche mit einer kritischen Qualifikationslücke zu kämpfen hat. Wer werden die Schneider:innne, Kunsthandwerker:innen und Schnittmacher:innen sein, die die Zukunft der Herrenmode gestalten? Kann die Branche diese Lücke schließen und dieses Wachstum aufrechterhalten? Die Weichen für das Wachstum sind in der Tat gestellt, aber die Frage bleibt: Wer wird dem Ruf folgen?
Christine Walter-Bonini, Präsidentin und Leiterin der Paris International Cutting Academy (AICP), spricht im Interview mit FashionUnited über den Boom der Herrenkonfektion und die Rolle, die die AICP bei der Unterstützung der Akteur:innen in diesem sich schnell verändernden Sektor spielen will.
Die AICP: eine Familienangelegenheit mit Wurzeln in der Männermode
Die Académie Internationale de Coupe de Paris blickt auf eine lange Geschichte zurück, die tief in der Kunst der Herrenmode verwurzelt ist. Dabei waren es die Schneider:innen selbst, die 1830 zur Gründung des Verbandes führten. Seitdem wurde die Schule immer von Schneider:innen geleitet, darunter auch der Journalist Monsieur Darroux, bis sie 1968 von der Schneiderfamilie Vauclair übernommen wurde. Zu dieser Zeit vollzog die Schule eine strategische Wende, indem sie ihre Programme um Industrialisierungstechniken erweiterte und sich auf den florierenden Markt für Konfektionskleidung ausrichtete.
Eine Landschaft im Wandel
Die Leiterin selbst bekennt sich zu ihrer großen Leidenschaft für Herrenmode. In der Tat beobachtet sie ein neues Interesse an der Herrenmode. Ein Trend, der ihrer Meinung nach auf ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren zurückzuführen ist.
„Zwei Dinge sind gleichzeitig passiert: Einerseits die für alle Sektoren komplizierte Zeit der Covid-Krise, aber auch eine Zeit, in der die Herrenmode vielleicht noch mehr als die anderen Sektoren gelitten hat, sowohl was die Herstellung als auch was den Vertrieb betrifft. Und jetzt, zwei oder drei Jahre später, gibt es ein neues Interesse an der Herrenmode. Warum ist das so? Zunächst einmal müssen wir beim Verbraucher:innen ansetzen und uns seine Bedürfnisse ansehen: Männer, junge Männer und Teenager interessieren sich zunehmend für Herrenbekleidung. Sie wollen schöne Dinge und sind zunehmend an ihrem Aussehen interessiert. Das hat dazu geführt, dass viele Marken, die früher keine Herrenmode mehr hergestellt haben oder nur Damenmode produzierten, jetzt wieder damit angefangen haben“, erklärte die Präsidentin.
Männer sind zunehmend auf der Suche nach qualitativ hochwertiger, gut gemachter Kleidung, die ihren Geschmack trifft und ihre Individualität und ihren Stil widerspiegelt. Außerdem schätzen sie das Erbe und die Handwerkskunst immer mehr und haben eine neue Vorliebe für Maßanfertigungen und halbe Maßanfertigungen. Eine Entwicklung, die die traditionsreiche Herrenmode in Perfektion verkörpert.
Ein Bedarf an Kompetenzen auf dem Markt
Ein großes Hindernis steht der Expansion der Herrenmode im Weg: der Mangel an technischen Fähigkeiten. Die Ära der „Fast Fashion“ und ihrer Vorgängerin, der Industrialisierung, die auf Massenproduktion und Wegwerfkleidung ausgerichtet war, hat zu einem Rückgang qualifizierter technischer Fachkenntnisse geführt. Das Ergebnis ist eine Modeindustrie, die mit einem großen Fachkräftemangel konfrontiert ist. Ein Mangel, der sich auf alle für das Design erforderlichen technischen Fertigkeiten auswirkt, insbesondere auf die Herstellung von Schnittmustern.
“Die technischen Ausbildungsprogramme für Männer sind heute rückläufig,”
Laut Walter-Bonini sind dafür, wie so oft, mehrere Faktoren verantwortlich. Zunächst einmal seien technische Ausbildungsgänge im Bereich Schnittmusterfertigung rar. Infolgedessen haben immer mehr Unternehmen Schwierigkeiten, qualifizierte Bewerber:innen für freie technische Stellen zu finden. Daneben schlägt ein weiteres Problem Alarm: die Pensionierungswelle der „Babyboomer“, also der in den 1950er Jahren geborenen Arbeitnehmer:innen, die jetzt das Rentenalter erreichen. Ihr umfangreiches Wissen und ihre Erfahrung verlassen mit ihnen die Branche. Und es wird nicht weitergegeben. Die jüngeren Generationen haben nicht die erforderlichen Fähigkeiten erworben, um die ausscheidenden Fachleute zu ersetzen.
Aber jede Krise birgt auch Chancen mit sich. Dieses Zusammentreffen von Faktoren hat einen florierenden Arbeitsmarkt für qualifizierte Modellmacher:innen geschaffen. Die Nachfrage nach manuellen Fertigkeiten ist im Nähsektor extrem hoch, allein in diesem Jahr sind rund 10.000 Stellen zu besetzen.
Wiederbelebung der Herrenmode: der Wunsch nach konkreten Berufen für die neue Generation
Die neuen Generationen schätzen zunehmend die Kombination aus technischem Know-how und kreativem Ausdruck, die diese Berufe bieten. Technische Berufe in der Herrenmode umfassen die Arbeit mit hochwertigen Materialien und die Beherrschung komplexer Techniken, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie vereinen Wissen, Kompetenz, Tradition, Erbe und Zeitlosigkeit und sind die perfekte Verkörperung der Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Sinn“. Diese Suche nach Sinn ist genau das, was die aktiven Generationen auf dem Arbeitsmarkt suchen.
In diesem Zusammenhang stellt Walter-Bonini fest, dass die Diskussion um das Handwerk zunimmt: „Wir sehen das an den Bewerbungen, die wir bei der AICP erhalten. Bei Vorstellungsgesprächen und schriftlichen Tests stellen wir fest, dass sich die Ambitionen der jungen Bewerber:innen deutlich verändert haben, insbesondere seit der Pandemie. Die Erfahrung der Enge und der globalen Krise scheint den Wunsch nach einer 'sinnvollen und praktischen' Karriere geweckt zu haben, wie viele Bewerber:innen zum Ausdruck gebracht haben. Sie wollen kreativ mit ihren Händen arbeiten und etwas Körperliches schaffen.“
„Infolgedessen haben wir ein wachsendes Interesse nicht nur an Modedesign, sondern auch speziell an technischen Bereichen wie Schnittmuster und Schneiderei festgestellt. Diese Hinwendung zum Handwerk nach Covid ist besonders interessant. In den letzten zwei Jahren hat dieser Trend weiter zugenommen und es gibt keine Anzeichen dafür, dass er sich abschwächt, was auch der Grund dafür ist, dass die AICP die Ausbildung für Herrenmode wieder aufnimmt.“
Von der Schnittmustererstellung zur KI: Wie die AICP seine Student:innen auf die sich verändernde Herrenbekleidungsindustrie vorbereitet
Die AICP steht wieder einmal an der Spitze dieser Bewegung und bildet die nächste Generation von Fachleuten aus, die die Zukunft der Mode gestalten werden.
„Wir lassen alles wieder aufleben, was es nicht mehr gibt, aber in der Wirtschaft gebraucht wird“, fügte die Präsidentin hinzu. „Die Schule passt sich auch an neue Materialien an, die viel technischer sind. Die Schüler:innen lernen digitale Technologien kennen. Alle Instrumente von der Digitalisierung bis hin zur künstlichen Intelligenz (KI) werden von der Schule abgedeckt, ebenso wie Kenntnisse über CSR und Wertschöpfungsketten, um sicherzustellen, dass die Studenten und Auszubildenden zu 100 Prozent wissen, wie sich ihr Beruf weiterentwickelt. Das Follow-up und die Diskussionen mit den Fachleuten sind in dieser Hinsicht äußerst wichtig, und die Schule wird auch von den Unternehmen stark nachgefragt, um die Fachleute durch Fortbildung auf den neuesten Stand zu bringen"
Die AICP vermittelt seinen Student:innen die Fähigkeiten, die sie brauchen, um in der Herrenbekleidungsbranche erfolgreich zu sein, angefangen bei grundlegenden Fertigkeiten wie der Herstellung von Schnittmustern, dem Formen und der Konstruktion von Kleidungsstücken bis hin zu sinnvollen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Fachleuten aus der Branche bei realen Projekten.
„Der technologische Fortschritt ist eine weitere Kraft, die die Herrenbekleidungsindustrie prägt“, sagt Walter-Bonini. Der 3D-Druck bietet ein immenses Potenzial für die Herstellung maßgeschneiderter Kleidungsstücke, die dem Träger perfekt passen. Die künstliche Intelligenz hat das Potenzial, die Auswahl von Kleidungsstücken zu personalisieren und sich an individuelle Stile und Vorlieben anzupassen. Und die AICP erforscht aktiv die Integration dieser Fortschritte in seine Lehrmethoden.
Die internationale Anziehungskraft der AICP: Ausbildung der nächsten Generation von Fachleuten auf der ganzen Welt
Die Akademie verfolgt Trends, die über die französische Haute Couture hinausgehen. Ihre langjährige Partnerschaft mit japanischen Bekleidungshersteller:innen, die sich über mehr als 40 Jahre erstreckt, hat ihr in Asien, insbesondere in Japan, einen guten Ruf eingebracht. Diese Partnerschaft, die von Vauclair initiiert wurde, hat das Know-how der AICP im Bereich der Herrenmode gefestigt. Darüber hinaus hat die Akademie ein solides Netz von Universitäten und Schulen in Asien aufgebaut, insbesondere in Japan, Korea und China, wodurch es jedes Jahr leichter wird, talentierte Student:innen für eine technische Ausbildung zu gewinnen.
Auf die Frage, was diese Student:innen dazu bewegt, sich an der Akademie einzuschreiben, erklärt der Präsident: „Technische Fertigkeiten werden in Asien sehr geschätzt, und die Student:innen sind begierig darauf, ihre Kenntnisse zu verfeinern. Während sich die traditionelle japanische Mustermacherei oft auf flache Muster konzentriert, bietet die AICP einen umfassenden Ansatz, der auch 3D-Techniken einbezieht. Diese innovative Methode ermöglicht es den Studierenden, starke Fähigkeiten zu entwickeln, die sie auf die Zukunft des Modedesigns vorbereiten. Abgesehen von den technischen Aspekten gibt es den immateriellen Vorteil des prestigeträchtigen Rufs, den Paris und seine Schulen in Asien genießen. Die Student:innen schätzen die Möglichkeit, von renommierten Lehrern zu lernen und ihre Fähigkeiten in einer Stadt zu verfeinern, die für Mode, Luxus und Handwerkskunst steht.“
Ein Blick in die Zukunft
Mit Blick auf die Zukunft sieht Walter-Bonini eine Zukunft voller Möglichkeiten für die Herrenbekleidungsindustrie. Nachhaltigkeit wird zu einem immer wichtigeren Thema, mit einer wachsenden Nachfrage nach umweltbewussten Praktiken in jeder Phase des Lebenszyklus von Kleidungsstücken. Doch damit ist das Gespräch noch nicht zu Ende. Da der technologische Fortschritt die Welt immer weiter umgestaltet, ist die Rolle der künstlichen Intelligenz in der Modebranche ein Thema, das immer wieder auftaucht. „Könnte KI jemals den Menschen ersetzen?“, fragt sich die Präsidentin. „Das ist eine Frage, die uns alle beschäftigt. Aber eine, auf die es bis jetzt noch keine endgültige Antwort gibt.“
Dieser übersetzte Beitrag erschien zuvor auf FashionUnited.com