Neue Ästhetik für Männer: Tailoring und Dandytum
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Verliert der Streetstyle an Bedeutung? Ist die Damenmode die Zukunft der Herrenmode? Kehrt der Dandy zurück? Diese Fragen stellte sich FashionUnited nach den Präsentationen der Herrenkollektionen für Herbst/Winter 2023-2024.
Die Einflüsse von Workwear und Streetwear lassen nach. Es scheint, dass die Looks der Arbeiterschaft oder der Straße die privilegierte Welt der Mode nicht mehr allzu sehr zum Träumen anregen. Der Wert der Arbeit ist in Verruf geraten. „Mit einem Mantel für einen Verkaufspreis von 800 Euro möchte man schick und angezogen sein und nicht denken, dass man ihn in einer Streetwear-Garderobe finden könnte“, fasst Designerin Naomi Gunther auf der Messe Tranoï Men zusammen.
Die Herrenkollektionen für Herbst/Winter 2023/2024 finden also wieder Gefallen am Anzug, der in verschiedenen Varianten daherkommt, je nachdem, ob man Fursac, Dunhill oder Colm Dillane für Louis Vuitton ansieht. Diese neue Ästhetik wird von den Fertigkeiten der Savile Row-Schneiderkunst inspiriert, wie die Kollektion von Grace Wales Bonner beweist. Sie hat mit Anderson und Sheppard, einem der weltweit führenden Häuser für Bespoke Tailoring, gearbeitet.
Das Schneiderhandwerk gewinnt in der Männermode wieder an Wert
„JW Anderson gab in Mailand den Ton an, indem er Models mit Stoffrollen über den Laufsteg schickte, um an den Designprozess zu erinnern und zum Wesentlichen zurückzukehren“, so Mad Magazine. Gleichzeitig eröffneten bekannte Marken wie Prada und Givenchy ihre Herbst/Winter 2023/2024 Schauen mit Anzügen und machten sie damit zu einem Must-Have. Aber anstatt das Wort ‘Anzug’ zu verwenden, sollte man vielleicht ‘Tailoring’ sagen. Angesichts der Kreativität bei der Erneuerung des klassischen Dreiteilers bei Schnitten, Materialien und anderen ergibt dies durchaus Sinn.
In der letzten Saison schreib FashionUnited von der die Femininisierung der Herrenmode und stellte sich die Frage nach der Entwicklung seiner Garderobe. In der Tat boten mehrere Avantgarde-Marken für den Sommer 2023 Röcke, Kleider, Schmuck, Absätze und Pailletten für Männer an. Die Herbst/Wintersaison 2023/2024 zeigt, dass die logische Folge nicht so sehr Männer in Frauenkleidern sind, sondern Herren, die sich für eine genderfluide Mode einsetzen. Das heißt, eine Garderobe, die sowohl von Männern als auch von Frauen getragen werden kann.
So gab es durchaus unerwartete Kombinationen zu sehen: Jacke und Hose zu einem Crop-Top bei Sankuanz, Hemd und Krawatte unter einer Drapierung bei Louis Gabriel Nouchi, Taillengürtel bei Dolce & Gabbana, Chiffonhemden bei Steven Passaro, ein Rock über einer Hose sowohl bei Dior und Givenchy als auch bei Walter Van Beirendonck. Inwiefern dies auch die Kernaussage der kommenden Fashion Weeks für Damen sein wird, bleibt abzuwarten. Übrigens ist es bemerkenswert, dass die Pariser Herrenmode entschieden den Weg für gemeinsame Laufstegpräsentationen ebnet. Zu Beginn dieses Phänomens argumentierten einige Branchenexpert:innen, dass es darum ginge, sichtbarer zu werden, da die Modewoche für Frauen als wichtiger angesehen wird. Heute gibt es bei den Männershows immer mehr weibliche Präsenz.
Die Herrenkollektionen für Herbst/Winter 2023/20024 verankern (gender)fluides Tailoring
Diese Mischung wird von Alexandre Mattiussi, dem Gründer und künstlerischen Leiter der Marke Ami, klar angenommen. „Prélude, die Herbst/Winter 23 Kollektion von Ami für Männer und Frauen, ist ein weiterer Schritt zur Definition einer immer moderneren und lebendigeren Garderobe“, heißt es in der Pressemitteilung. „Eine Kollektion, die den Pariser oder die Pariserin, den Mann oder die Frau perfekt repräsentiert. In dieser Saison wird der Winter von Ami leichter: die Materialien, Farben und Schnitte sind alle sehr weich, fließend - ich würde sogar sagen, fast romantisch.“ Das bereits jetzt begehrteste Stück der Kollektion ist ein langer Unisex-Mantel, der sich den Körperlinien anpasst, ohne dieser Struktur zu geben. Mit Sicherheit ein Muss für den nächsten Winter, sowohl für Frauen als auch für Männer.
Die Finessen des modernen Dandytums
Luke Derrick, der seine Kollektion in den London Show Rooms während der Pariser Fashion Week im Januar präsentierte, erweitert die Grenzen der luxuriösen Herrengarderobe mit perfekt geschnittenen Stücken, „Kleidung für Männer, die es schaffen wollen“, schrieb das Magazin The Face über die Kleidung.
Er überarbeitet die Ästhetik des modernen Dandys, ein Typus, der unter dem Einfluss der Streetwear ausgedient hatte, aber in dieser Herbst/Winter-Saison 2023 2024 wieder seinen Platz in der Herrenmode zurückerobert. Das zeigt sich unter anderem bei der Präsentation von Anthony Vaccarello, der die berühmte Lavallière – eine Schleifenkrawatte seines Vorgängers Yves Saint Laurent, die ursprünglich für Frauen gedacht war – um männliche Hälse herum wickelt.
Unter den aufstrebenden Talenten ist der spanische Designer Arturo Obegero zu erwähnen, der im Sphère Showroom der Fédération de la Couture et de la Mode zu sehen war. Sein Stil mag altmodisch gewirkt haben, als US-Rap die Laufstege beherrschte, aber der kommende Winter gibt seinem „Homme Fatal“ neuen Schwung. Es ist ein Typus, der an die Femme Fatale angelehnt ist: „Ich wollte diesen sexistischen Begriff aus den 40er Jahren, der Zeit des Film Noir in Hollywood, neu überdenken“, sagt er.
Ein ganz anderes Szenario entwirft der chinesische Designer Sean Suen. Er wollte sich laut Pressemitteilung von der „Verwirrung und Hektik des Lebens in einer modernen Kulturstadt entfernen, um in den weiten Bergen von Daliang in China die Kultur des Yi-Volkes zu erforschen“, einer ethnischen Gemeinschaft, die sich dem Animismus und Schamanismus verschrieben hat. Sean Suen hofft, „dass man über die intrinsische Qualität des Selbstbewusstseins durch das Prisma einer alten orientalischen Kultur nachdenken wird.“
Die Mode ist manchmal tiefgründiger als sie es auf den ersten Blick erahnen lässt.
Dieser Artikel wurde ähnlich auf FashionUnited.fr veröffentlicht. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Barbara Russ