Paris Fashion Week: Die Herrenmode für Herbst/Winter 2023 mit Neuheiten und Fragezeichen
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Die Männermodewoche in Paris fand erneut inmitten eines für Frankreich notorischen Streiks statt. Dieses Mal richteten sich die Proteste gegen einen Vorschlag der Regierung, das Renteneintrittsalter von 62 Jahren – eines der jüngsten der Welt – auf 64 Jahre anzuheben. Die von einer Vielzahl von jungen Menschen geführte Modeindustrie ist eine von unzähligen Branchen, in denen ältere Arbeitnehmer:innen Schwierigkeiten haben, eine Anstellung zu finden. In einigen Sektoren, wie dem französischen Kunsthandwerk, ist man jedoch auf eine ältere Generation von Fachkräften angewiesen, die ihre Fähigkeiten an die jüngere Generation vermitteln können.
Die reinste Form des Kunsthandwerks
Nirgendwo ist die Handwerkskunst so sehr in die Essenz eines Luxushauses eingebettet wie bei Hermès. Für den Herbst dominieren elegante Lederstücke die Kollektion und sorgten für Begeisterung auf dem Laufsteg. Hermès verwendet nur die feinsten Lederarten und schneiderte daraus in dieser Saison geschmeidige Hosen, Blousons, Jacken, Taschen und Accessoires. Am Samstag konnte man in der Boutique der Marke im 6. Arrondissement Scharen von Kund:innen beobachten, die sich die Luxusartikel der Maison, die niemals reduziert werden, unter den Nagel rissen. Die Menschenschlangen ließen die Kassen klingeln.
Saint Laurent
Eine der eindrucksvollsten Kollektionen der Woche kam von Saint Laurent. Kreativdirektor Anthony Vaccarello präsentierte eine neue Silhouette für das Haus, die lang, schlank und androgyn ist und sich weniger am Rock'n'Roll oder an der für die Marke erwartbare Abendgarderobe orientiert.
Vaccarello ließ die Grenzen zwischen traditioneller Herren- und Damenbekleidung verschwimmen. Er richtete den Blick nach vorn und verlängerte die Mäntel und verschmälerte die Konfektion. Dazu kamen gerade geschnittene, aber weit fallende Hosen, von denen einige mit Strickkleidern kombiniert wurden, die bis unter das Knie reichten. Ein Smokinghemd verwandelte sich in eine Pussy-Bow-Bluse, ein Herzstück der Kollektion, das ebenso gut in eine fluide Garderobe passt und in der Geschlechterkonstrukte keine Rolle mehr spielen. Die überwiegend in Schwarz gehaltene Kollektion, leitet ein neues Kapitel für das Haus ein, das zweifelsohne schnell in die breite Masse vordringen wird.
Ludovic de Saint Sernin
Ein weiterer Pionier der Männermode ist Ludovic de Saint Sernin. Der gebürtige Franzose hat die sexy Herrenmode in eine immer neuere Richtung gelenkt. Seine Vision passt perfekt zum Zeitgeist, wonach sich alle Menschen unverblümt ihrem Selbst hingeben, unabhängig davon, wie sie es ausdrücken.
Die Bodywear von De Saint Sernin ist mehr als die übliche Ästhetik gut gebauter Männer in knappen Kleidungstücken obwohl auch diese auf dem Laufsteg zu sehen war. Es ist eine selbstbewusste Vision von Schönheit, die die Geschlechterrollen aufhebt. Ein Beispiel dafür ist ein durchsichtiges, besticktes Oberteil, das über einem glitzernden Mini-Rock getragen wird und auf dem Laufsteg sowohl für Sie als auch für Ihn präsentiert wurde. De Saint Sernin hinterfragt klassische Merkmale von Kleidungsstücken und all jene, die diese einst festgelegt haben.
De Saint Sernin, der vor kurzem zum Kreativdirektor von Ann Demeulemeester ernannt wurde, wird seine Ästhetik damit auf eine weitere Marke übertragen, bei der die Androgynität seit langem im Mittelpunkt steht. Es bleibt abzuwarten, ob er dem eher gotischen Ansatz von Demeulemeester eine neue, inspirierende Richtung geben kann.
Louis Vuitton
Bei Louis Vuitton drehte sich alles um große Statements. Das Haus befindet sich im Umbruch und die Zusammenarbeit mit dem KidSuper-Gründer Colm Dillane in dieser Saison rückt das Storytelling in den Mittelpunkt. Während Gucci sich dafür entschied, vor der Ankündigung eines neuen Designers reinen Tisch zu machen, ging Louis Vuitton in die entgegengesetzte Richtung und setzte auf konstante Kommunikation, ohne dabei viel zu sagen.
LVMH wird im Laufe dieser Woche den Umsatz für 2022 bekannt geben, und Louis Vuitton wird wahrscheinlich die erste Marke des Unternehmens mit einem Umsatz von 20 Milliarden Euro sein, so Analyst:innen. Das bedeutet eine Menge verkaufter Taschen und Accessoires, ganz zu schweigen von zusätzlichen Druck auf den neuen CEO Pietro Beccari, die Wachstumsdynamik aufrechtzuerhalten.
Was die Herrenmode betrifft, so hat das Haus den klassischen Ansatz der zeitlosen Mode längst hinter sich gelassen. Hier ist die Jugend von heute die Kundschaft von morgen, und die Trickkiste von Vuitton ist ausschließlich auf diese Zielgruppe ausgerichtet. Die Mode ist laut, entweder in Form von Slogans, Drucken oder Botschaften. Wenn man den ganzen Lärm weglässt, bleiben gut gemachte Statement-Stücke übrig, aber diese fühlen sich häufig bedeutungsleer an.
Wales Bonner
Designerin Grace Wales Bonner wählte für ihr Debüt auf dem Pariser Laufsteg einen passenden Ort, den Place Vendôme – das elegante Herzstück der französischen Hauptstadt.
Eröffnet wurde die Show mit einem schwarzen, maßgeschneiderten Mantel mit schlichtem seitlichem Verschluss, der mit einem weißen, skulptural geformten, umgedrehten Kragen und einer Brosche ergänzt wurde. Dieser Look setzte einen romantischen Akzent für die Präsentation, die eine modische Mischung aus Sport, Tailoring und Abendgarderobe auf den Laufsteg brachte. Dabei hatte die Show die Leichtigkeit einer selbstbewussten Designerin, die zu sich selbst gefunden hat. Die Looks enthielten subtile kulturelle Anspielungen auf Josephine Baker, Art Deco und Maharaja-Adel, wirkten aber nie effekthascherisch, sondern verströmten die poetische Eleganz einer Epoche, die auch heute noch nachklingt.
Letztes Jahr wurde Wales Bonner als mögliche Nachfolgerin von Virgil Abloh bei Louis Vuitton gehandelt. Die Frage, die in dieser Saison in aller Munde ist, lautet: Wen werden LVMH und Gucci berufen?
Dieser übersetzte und bearbeitete Beitrag erschien zuvor auf FashionUnited.com.