Perfekte Unvollkommenheit: Alles über ‘Sashiko’, die japanische Technik zur Denim-Ausbesserung
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Hunderte winzige Stiche in Weiß wurden von Hand auf einen indigoblauen Stoff genäht, zusammen ergeben sie ein durchgehendes Muster aus stilisierten Blumen. Diese japanische Technik, die ‘Sashiko’-Stickerei genannt wird, kommt auf einem Kimono der Sammlung des Metropolitan Museum of Art in New York besonders zur Geltung. Das gut erhaltene Stück kann auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert werden und bietet der feinen Stickarbeit eine Fläche zum Wirken.
Sashiko ist der Gegenpol zu Fast Fashion, da mit dieser Technik Stoffe wie Jeans ausgebessert und somit der Kurzlebigkeit eines Kleidungsstücks der Kampf angesagt wird. Die reparierten Kleidungsstücke erhalten dadurch auch einen künstlerischen Touch, wobei jedes Stück Stoff seine eigene Geschichte erzählt. Manchmal wird Sashiko auch als Form der Meditation eingesetzt: Die wiederholte Tätigkeit des Stickens soll außerdem helfen, sich zu besinnen.
FashionUnited hat verschiedene Aspekte beleuchtet und versucht, der Frage auf den Grund zu gehen, ob Sashiko eine Lösung für das wachsende Problem der Verschwendung in der Modewelt sein kann.
Aus Notwendigkeit geboren
Für den niederländischen Designer und Innenarchitekten Pey van der Wel hat alles mit seiner Lieblingsjeans angefangen, die einen Riss am Knie hatte. Wegwerfen kam für ihn jedoch nicht in Frage – schließlich war die Hose erst sechs Monate alt. Also machte er sich auf die Suche nach den Grundlagen der Stoffverstärkung, um das Kleidungsstück zu retten. Dabei stieß er auf die uralte Kunst des Sashiko. „Diese Sticktechnik stammt aus dem Japan des 17. Jahrhunderts, ist aber wahrscheinlich noch viel älter“, sagte Van der Wel. „Traditionell handelt es sich um eine bäuerliche Reparaturtechnik. Sie wurde angewandt, um Kleidung aus Hanf zu flicken – Baumwolle war den Reichen vorbehalten, Indigo-Baumwolle den König:innen. Wenn die Kleidung riss, wurde mit dieser einfachen Technik die Verschleißstelle verstärkt. Bei oftmaliger Wiederholung entstehen die schönsten Kleidungsstücke, die heute zum Teil in Museen hängen.“
Vor Jahrhunderten aus der Notwendigkeit geboren, die Lebensdauer von Stoffen zu verlängern, ist Sashiko heute noch immer aktuell. Übersetzt bedeutet die Bezeichnung ‘kleine Stiche’, wobei nur der Heftstich zum Einsatz kommt. „Erstaunlich einfach“, bemerkte Van der Wel. Damals holte er das Nähkästchen seiner Mutter aus dem Schrank, um seine Lieblingshose zu flicken. Da er keinen zusätzlichen Stoff hatte, opferte er die fünfte Tasche seiner ‘5-Pocket’-Jeans. „Traditionell verwendet man für Sashiko eine kontrastierende Garnfarbe, meist weiß auf dunkelblauem Stoff. Dass die Nähte dadurch hervorstechen, ist Absicht. So habe ich auch angefangen. Obwohl die Technik nicht kompliziert ist, erfordert sie viel Zeit und Konzentration, da man sehr aufmerksam sein muss. Nach einer Stunde hatte ich meine Hose geflickt. Es gab mir ein tolles Gefühl, es selbst geschafft und der Hose ein zweites Leben geschenkt zu haben.“
Übung macht Meister:innen
Als Van der Wel mit seiner reparierten Jeans unter Leute ging, folgte bald die Frage, wo er die Hose gekauft habe. „So fing ich an, auch Teile für andere auszubessern. Zuerst nur im Familienkreis, aber das weitete sich schnell aus“, sagt Van der Wel. „Ich beschloss, eine Referenzbibliothek aufzubauen und teilte die Ergebnisse auf Instagram mit dem Hashtag ‘Repairdontreplace’. Das war die Geburtsstunde meines Unternehmens Sashikodenim.“ Mit einer Vorliebe für hochwertige japanische Jeans war er schon immer ein Fan des Denimstoffes. Daher konzentriert sich seine Werkstatt speziell auf diese Nische, obwohl Van der Wel inzwischen auch andere Kleidungsstücke mittels Sashiko-Technik repariert. „Nach stundenlangem Üben, müden Augen und manchmal blutenden Fingerspitzen beherrsche ich die Sticktechnik immer besser“, erzählte er. „Je mehr Hosen man repariert, desto mehr lernt man über verschiedene Stoffe, Konstruktionen und Herstellungsmethoden, was sehr lehrreich ist. Ich habe auch viel über Ästhetik recherchiert, wie die Größe der Flicken und den Abstand zwischen den Stichen.“
Eine achtsame Tätigkeit
Van der Wel bezeichnet Sashiko als das „zugänglichste Handwerk“, das es gibt, da man dafür weder Maschinen noch Vorkenntnisse braucht. Alle können es lernen, davon bin ich überzeugt. Aber es braucht eine gewisse Hingabe.“ Um andere zu ermutigen, es auch zu versuchen, verkauft er Reparaturkits in seinem Onlineshop. Dazu gehören eine kurze Sashiko-Nadel, Baumwollstickgarn, ein Lederfingerhut und Denim-Stoffmuster in verschiedenen Größen und Farben. Außerdem bietet er Workshops in Jeansläden und auf Jeansmessen wie der Kingpins Amsterdam und der Heritage Post Trade Show in Düsseldorf an. „Zu Zeiten von Corona habe ich auch Online-Workshops für das niederländische Textilmuseum gegeben. Sashiko gegen Langeweile – eine tolle Initiative!“ Auch in seinem eigenen Atelier bietet er Sonntagvormittag Workshops in kleinen Gruppen an. Alle Teilnehmer:innen bringen ihre eigene Jeans mit. „Gemeinsam reparieren wir die Jeans. Zuerst schauen wir genau hin: Was ist kaputt, wie ist das passiert und wie ist die Jeans zusammengesetzt? Dann kommt ganz schnell Ruhe in den Raum und alle setzen sich hin und nähen ganz ‘zen’.“
Die traditionellen Sashiko-Muster sind oft abstrakt und dekorativ, stecken aber voller Bedeutung: Sie können florale Motive oder Sonnen zeigen. „Ich habe einige Lieblingsmuster, die robust sind und sich gut für Hosenschnitte eignen“, so Van der Wel. „Ich arbeite nie mit vorgefassten Meinungen. Zuerst schaue ich mir an, was verstärkt werden muss, danach die Komposition als Ganzes. Wenn alles zusammenpasst, fange ich an, und die Muster folgen intuitiv.“ Sashikos Prämisse ist, dass das Ergebnis nicht perfekt sein muss – Hauptsache, es macht Spaß. Van der Wel ergänzte: „Es hat mich gelehrt, meinen Perfektionismus loszulassen. Am Anfang war ich sehr darauf bedacht, die Linien und Abstände genau zu zeichnen. Ich wollte alles so schön wie möglich machen. Aber dann schaute ich es mir an und merkte, das ist nicht richtig. Wenn man in dem Moment einfach tut, ohne nachzudenken, ist das Ergebnis viel authentischer. Man sieht, dass es Handarbeit ist. Erst auf halber Strecke, wenn die Stiche sich kreuzen, wird es schön.“
70 Stunden Handarbeit für eine Hose
Das Interesse an Sashiko nimmt weltweit zu. Van der Wel erhält aus der ganzen Welt ‘Lieblingshosen’ zur Reparatur, aus denen sich ungewöhnliche Geschichten ergeben. Eine Jeans aus Amerika fand sich darunter, bei der das linke Bein von unten nach oben aufgeschnitten war. „Ich habe den Jungen trotzdem gefragt, was passiert war. Es stellte sich heraus, dass er einen Motorradunfall hatte, bei dem Sanitäter:innen die Hose aufschneiden mussten. Danach humpelte er zwar, wollte die Hose aber wieder tragen. Ein Kleidungsstück mit solchen Reparaturen ist natürlich ein Souvenir.“ Ein anderer Kunde kommt seit acht Jahren immer wieder mit derselben Hose zu Sashikodenim – immer in kürzeren Zeitabständen, weil sie sich schneller abnutzt. „In dieser Hose stecken jetzt etwa 70 Stunden Handarbeit. Man kann sich vorstellen, wie viele Flicken da drin sind. Das Ergebnis ist eine Hose, die doppelt so schwer und stabil ist wie am Anfang – jedoch so schön anzusehen! Ich habe dem Kunden versprochen: ‘Solange Sie diese Hose tragen, werden wir sie reparieren.’“
Ist das Reparieren die neue Norm?
In Zeiten von Überkonsum und wachsenden Müllbergen ist Sashiko eine nachhaltige Möglichkeit, Textilien ein zweites Leben zu schenken. Die Stickereien machen jedes Kleidungsstück zu einem individuellen Kunstwerk. „Ich persönlich versuche nicht, Nachhaltigkeit explizit zu predigen. Sie ist ein natürlicher Bestandteil meines Geschäfts“, so Van der Wel. „Meine Mission ist es, Reparaturen zugänglich zu machen. Ich möchte an der Spitze des Reparaturprozesses stehen.“ Nicht jede:r ist mit Sashiko vertraut. Dass viele Modeunternehmen inzwischen Reparaturabteilungen einrichten, bezeichnet er als positive Entwicklung. Seine Söhne, der zehnjährige Oliver und der neunjährige Lewis wachsen damit auf, dass Reparieren das Normalste überhaupt ist. „Kürzlich hat Oliver einen Sashiko-Workshop für seine ganze Klasse gegeben. Die Idee dazu hatte er selbst. An seine Mitschüler:innen verteilte er Reparatursets mit Flicken und Jeansflicken. Und Lewis fragte neulich: ‘Papa, hast du Klebeband, Hammer und Leim für mich? Irgendwas ist kaputt und ich will sehen, ob ich es reparieren kann.’ Da dachte ich: ‘Ja, es gelingt.’“
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf FashionUnited.nl. Übersetzt und bearbeitet von Heide Halama.