Shayli Harrison, Gründerin von Mutani: "Die Mode ist so starr geworden. Die Spielewelt ist das Gegenteil davon."
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Für experimentierfreudige Modeschaffende ist die heutige Modeindustrie kein einfacher Ort. Wer Geld verdienen will, muss für die Allgemeinheit entwerfen – und genau diese Allgemeinheit ist in erster Linie an Kleidung interessiert, die den bestehenden Konventionen entspricht. Diese Konventionen bestehen in Form von Trends und Dresscodes, sind aber oft auch einfach praktisch: Schließlich ist es einfacher, in Jeans auf dem Fahrrad einkaufen zu gehen als in einer extravaganten Kreation mit flatterndem Layering oder Cutouts.
Im Laufe der Jahre hat sich jedoch ein neuer Raum aufgetan, in dem alles möglich scheint: der Cyberspace. Hier gelten nicht die gleichen sozialen Regeln oder praktischen Erwägungen wie im realen Leben. Das macht die virtuelle Welt zu einem Ort für experimentelles Design, meint die Designerin Shayli Harrison. Harrison schloss 2018 ihr Studium an der Königlichen Akademie der Schönen Künste in Antwerpen ab. Vor kurzem hat sie das Unternehmen Mutani (sprich: Mútani) gegründet. „Der Cyberspace ist der Ort, an dem kreative Arbeit von echtem Wert sein kann“, sagt sie.
Zwischen Kreativität und Kommerz
Dekonstruierte Kleidungsstücke, gigantische Ärmel aus bunten, glänzenden Stoffen, fabelhafter Lippenschmuck und hypnotisierende Drucke – Harrisons Abschlusskollektion mit dem TItel „Crimes Against Nature“ sprengte alle Vorstellungen. In der Vergangenheit hat die Antwerpener Akademie oft radikale Designer hervorgebracht, die als Avantgarde an den Grenzen der Mode und Kunst arbeiten. „Wir kommen nicht als Designer:innen aus der Akademie, sondern als Kreativdirektor:innen, als Menschen mit einer künstlerischen Vision“, sagt Harrison. „An der Akademie schaut man sich hauptsächlich Illustrationen, Bücher und Kunst an. Man modelliert und zeichnet, und dann setzt man diese Ideen in Kleidung um."
Für diese Art von Modeschaffenden ist es oft eine Herausforderung, in der kommerziellen Modeindustrie einen Platz zu finden. Harrison erklärt: „Je freier man in seiner Kreativität ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass man in einer Art Schwebezustand zwischen Kunst und Mode landet. Man dient als Inspirationsquelle für viele andere Kreative und Marken, aber man selbst wird nirgendwo angestellt.“ In den Jahren während und nach ihrer Ausbildung lernte Harrison weitere Schattenseiten der Branche kennen. „Die Massenproduktion, die Verschwendung, die schlechten Arbeitsbedingungen... Ich beschloss: Das ist nicht der richtige Ort für mich.“
Vom digitalen Dorf zum Metaverse
Es war kein Zufall, dass Harrison in der Welt der digitalen Mode landete. Bereits während ihres Studiums hatte sie ein Virtual-Reality-Erlebnis entwickelt, das sie an der Akademie präsentierte. Nach ihrem Abschluss wurde sie vom Kunstzentrum Z33 in Hasselt, Belgien, gebeten, mit einem kleinen Team von Digitalkünstler:innen an einem VR-Kunstprojekt zu arbeiten. „Wir haben einen Innenraum aus Textilien gestaltet, durch den virtuelle Kreaturen liefen. Man konnte sie mit einer VR-Brille sehen, die von der Decke herabhing. Das gab mir eine Vorstellung davon, wohin ich mich entwickeln wollte.“
Zur gleichen Zeit wurde ein Aufruf für das ‘Digital Village veröffentlicht, ein Projekt von Evelyn Mora, die auch hinter der virtuellen Helsinki Fashion Week steht. Dieses digitale Dorf ist in Wirklichkeit ein riesiges „Multiplayer-Metaverse“ mit Möglichkeiten zum Surfen, Spielen und zur sozialen Interaktion. Das Digital Village bietet auch eine Bühne für digitale Designschaffende, die ihre Entwürfe über einen Marktplatz verkaufen können. Harrison bewarb sich mit ihrem Portfolio bei der offenen Ausschreibung von Digital Village und hatte Erfolg. Seit November letzten Jahres arbeitet sie zusammen mit einem Team von zwölf Expert:innen aus den Bereichen Animation, Bildhauerei und Ton an dem zweiminütigen Film „Fear the Foli-age“, der in Kürze im Rahmen des Starts von Digital Village veröffentlicht werden soll. Die phantasievollen Filmfiguren und ihre extremen Outfits, die Harrison entworfen hat, basieren auf ausgestorbenen Blumenarten wie der Kiebitzblume und der blauen Stechpalme.
Während des Projekts erfuhr Harrison, dass sie ihre digitalen Entwürfe und Avatare auf dem Online-Marktplatz von Digital Village in Form von NFTs, kurz für Non-Fungible-Token, verkaufen kann. „Ich musste erst einmal herausfinden, was das bedeutet. Ich hatte davon gehört, aber was konnte ich damit anfangen?“
Der Begriff NFTs ist für viele immer noch ein Rätsel. Kurz gesagt, handelt es sich bei Non-Fungible-Tokens um virtuelle, nicht austauschbare Eigentumsnachweise für digitale Gegenstände. Das können beispielsweise Avatare oder digitale Outfits sein, die man in Spielen nutzen kann, aber auch virtuelle Kunstwerke oder Musikstücke. Die NFTs sind in einem Blockchain-System hintelegt, das festhält, in wessen Eigentum sich etwas befindet ist und wo Verkaufstransaktionen registriert werden. NFTs können mit Kryptowährungen wie Bitcoins, aber auch mit US-Dollar oder Euro gekauft werden. Obwohl der Handel mit NFTs noch nicht so weit verbreitet ist, investieren einige bereits kräftig in sie. Das erste NFT-Kleid, entworfen von der niederländischen Firma The Fabricant, wurde 2019 für umgerechnet 8.120 Euro verkauft.
Sehnsucht nach schönen Dingen
Der Markt für NFTs wächst derzeit rasant. NFT-Händler:innen und Modeschaffende wie Harrison reagieren nicht nur auf die zunehmende Nutzung des Internets durch die Menschen, sondern antizipieren auch die Entwicklungen, die es durchlaufen wird. „Je tiefer ich in die Materie eintauchte, desto klarer wurde mir, dass sich vieles um das 'Web3' dreht“, so Harrison. „Das ist im Grunde eine Zukunftsperspektive für das Internet in Form eines Metaversums, einer virtuellen Welt, die von Spieleentwickler:innen und nicht von Programmierer:innen geschaffen wird und in der alles visuell ist.“ Im Web3 ist eine wichtige Rolle für Avatare reserviert, mit denen man sich durch das Metaverse bewegen kann. Dieser Avatar kann gestylt werden, genau wie in Spielen wie Die Sims, Animal Crossing und Fortnite.
Einige große Modemarken wagen sich bereits in den Cyberspace, insbesondere in die Spielewelt. Diese Marken bieten meist digitale Versionen von bestehenden Looks an. Harrison hält das für langweilig: „Ich möchte nicht in einem Spiel in einem Crop-Top und Leggings herumlaufen. Das Design muss dem Zweck der Spielwelt dienen, der darin besteht, unsere Vorstellungskraft zu erforschen.“
Harrison sieht die Spielwelt und das Metaversum als einen „sicheren Raum“, in dem die Menschen frei mit Formen und Identitäten experimentieren und Spaß an der Mode haben können, fernab von den Konventionen des täglichen Lebens. „Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Mode den Spaß-Faktor ein wenig verloren hat. Es gibt eine Sehnsucht nach Theatralik, nach seltsamen und wunderbaren Dingen. Die Mode ist so starr geworden. Die Spielewelt ist das Gegenteil davon. Hier kann meine Arbeit wirklich von Wert sein.“
Die 'Antwerp Cyber Six'
Harrison möchte außerdem anderen Modeschaffenden eine Möglichkeit bieten, ihre Kreativität voll auszuschöpfen und auch von dem Einnahmemodell zu profitieren, das digitales Design bietet. „Designer:innen, die ihre Arbeiten digital entwickeln, können sie online verkaufen. Das könnte ihnen auch den finanziellen Spielraum geben, um in der realen Welt weiter zu gestalten. Die Digitalisierung erfordert jedoch spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten und ist für die meisten Modeschaffenden alles andere als selbstverständlich“, so Harrison. „Es gibt viele Designer:innen, deren Arbeit sich sehr gut für das Metaversum eignet, die aber die Technologie dahinter nicht verstehen.“
Dafür gibt es Mutani. Das Unternehmen bringt radikale Kreative mit Technikaffinen zusammen, um digitale Mode zu entwerfen, „die die Spieler:innen dazu ermutigt, rohe Formen der Selbstdarstellung in Spielen und im Metaverse zu erkunden.“ Die so entwickelten Designs werden über Blockchain-Plattformen verkauft, wobei die Gewinne zu gleichen Teilen unter den Mitwirkenden aufgeteilt werden. Die Idee ist, dass die finanzielle und kreative Freiheit, die die digitale Mode bietet, letztendlich zu mehr Raum für Modeexperimente in der physischen Welt führen wird.
Drei Avatare aus „Fear the Foli-age“ wurden bereits unter dem Namen Mutani veröffentlicht, ebenso wie eine Reihe digitaler Versionen von spektakulären Schmuckstücken aus Harrisons Abschlusskollektion. Harrison arbeitet derzeit an einem Test für Mutanis Arbeitsprozess unter dem Namen 'Antwerp Cyber Six', einer spielerischen Ableitung der Antwerp Six. Der Plan sieht vor, sechs Absolventen der Antwerpener Akademie einzuladen, um mit Mutani die Schritte der Digitalisierung zu durchlaufen. Zu diesem Zweck durchforstet Harrison die Archive der Akademie nach Abschlussarbeiten mit Potenzial für das Metaverse. „Wir schauen uns an, wessen Arbeit am besten in die Gaming-Fantasie passt. Das hat nichts mit Mode oder Trends zu tun, sondern mit der Fähigkeit, eine Geschichte um eine Figur herum aufzubauen.“
In Zukunft soll Mutani zum Ausgangspunkt für die ausgefallenste Mode in der Cyberszene werden, zum Ort für die mutigsten digitalen Designs. In der Tat ist diese Zukunft spekulativ, wie Harrison beobachtet: „Es gibt viele Startups, die sich dem Web3 verschrieben haben, aber wie es genau aussehen und funktionieren wird, weiß noch niemand so genau. Es braucht Zeit, um das herauszufinden. Diese Zeit sollte besser gut genutzt werden."
Dieser Artikel wurde zuvor auf FashionUnited.nl veröffentlicht. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ