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Trendexperte Julian Daynov: Menswear befreit sich von Standard-Normcore-Stigma und Uniformität

Von Ole Spötter

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Mode |Interview

Julian Daynov für Studio Seidensticker x Julian Daynov. Foto: Seidensticker

Mode befindet sich im stetigen Wandel und das betrifft auch die Menswear, die meist mit klassischen und sportlichen Looks assoziiert wird. Wie definiert sich maskuline Mode überhaupt noch in einer Zeit, in der Vorbilder wie Musiker Harry Styles den Stil einer jungen Generation prägen? Und wo bleibt dabei der “klassische Menswear-Kunde”?

Darüber Aufschluss gibt Trendexperte Julian Daynov. Der Wahlberliner bringt vielseitige Erfahrung in der Modebranche mit – Berater für Marken, Content Creator und Trend-Forecaster. Außerdem war er unter anderem als Einkäufer für das US-amerikanische Luxuskaufhaus Saks Fifth Avenue aktiv. FashionUnited hat Daynov bei der Menswear-Messe Pitti Uomo in Florenz getroffen. Dort stellte er seine aktuelle Zusammenarbeit mit Studio Seidensticker vor, der progressiven Linie des Bielefelder Bekleidungsanbieters.

Die Menswear befindet sich im Wandel, aber wohin bewegt sie sich?

Es ist nicht nur die Herrenmode, es ist die Mode, die Gesellschaft, die ganze Welt – wenn man es auf die Herrenmode herunterbricht, hat der größte Teil dieses Wandels seinen Ursprung in unserer modernen Interpretation von Maskulinität. Wir brechen mit Geschlechterrollen, alten Normen und antiquarischen Überzeugungen, wenn es um alles geht, was uns umgibt. Veränderung ist unsere neue Bewegung.

Das Spektrum der zeitgenössischen Herrenmode ist heute fließend und unterstreicht die Eigenschaften und Qualitäten des modernen Mannes: mutig und doch sanft, kühn und verletzlich, inspirierend, sportlich, schick, alternativ, punkig, ausdrucksstark, fürsorglich, frei von diesem Standard-Normcore-Stigma und der patriarchalischen Uniformität, in der unsere Eltern gefangen waren. Ich sehe in diesem Zusammenhang die Befreiung als Schlüsselkonzept und treibende Kraft – die Herrenmode bewegt sich zusehends auf eine experimentellere Spielwiese zu, die bisher vor allem der Damenmode vorbehalten war.

Welche Beobachtungen haben Sie dabei gemacht?

Es gibt so vieles, was wir im Moment in der Menswear beobachten können, und alles hat seine Berechtigung – die ultimative Formveränderung in der Kleidung, eine poetische und nostalgische Sehnsucht nach den 90er Jahren, ein Abschied von der Hipster- oder Hype-Beast-Kultur und eine ganze Welle von Ikonen und Vorbildern, die moderne Männlichkeit neu definieren, umgeben uns. Was tiefgreifend festgelegt wurde, ist überholt und das nicht nur im modischen Sinne – es ist eher eine ideologische Ebene der Veränderung, die wir hier erleben.

Wer sind diese Vorbilder?

Harry Styles, Jared Leto, Troye Sivan – um nur einige zu nennen. Sie sind nicht nur Botschafter der Mode oder des Trendbewusstseins, sie verbreiten eine neue Einstellung und Haltung zum eigenen Sein.

Harry Styles bei den Brit Awards 2023 in London. Foto: Isabel Infantes / AFP

Bei Studio Seidensticker entwickeln Sie selbst einen progressiven Ansatz für den traditionsreichen Bekleidungshersteller. Wie funktionieren diese zwei Strömungen nebeneinander?

Studio Seidensticker als 'Diffusion Line' innerhalb des Markenuniversums der Seidensticker Group konzentriert sich auf die Zusammenstellung zeitloser, aber moderner Looks und kuratiert eine Reihe von Stücken, die über klassische Kategorien, Anlässe und Geschlechtergrenzen hinausgehen. Sie verfolgt einen zeitgemäßen Ansatz und paart ihn mit dem Erbe und den Werten von heute: mühelose Kleidungsstücke, einfache Silhouetten, Stoffe von höchster Qualität, die alle mit Respekt vor der Natur und den Menschen im Produktionskontext hergestellt werden.

Tatsächlich ist es genau die Koexistenz beider Parameter, die die gesamte Marke und die Geschichte dahinter so besonders und wertvoll macht. Die Verbindung von Tradition und Moderne, Erbe und Zeitgeist, Generationen von Handwerker:innen und visionären Kreativen ist ein entscheidender Teil der Identität dieses Projekts.

Die Handwerkskunst und das Erbe bringen wahrscheinlich auch Vorteile mit sich…

Ja, viele junge Marken haben oft damit zu kämpfen, dass ihnen die fundierten Fachkenntnisse und das Wissen in der Bekleidungskonstruktion, -veredelung und -herstellung fehlt. Es ist viel einfacher, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der seit über 100 Jahren den Weg für das Design und die Herstellung von Hemden jeglicher Art bereitet hat. Es ist genau die Kombination aus Erbe, Tradition und Know-how, gepaart mit dem Wunsch nach Modernität und dem Antrieb, ein so heiliges und geschichtsträchtiges Kleidungsstück wie ein Hemd zu interpretieren und in den Kontext unserer Zeit zu stellen.

Julian Daynov für Studio Seidensticker x Julian Daynov. Foto: Seidensticker

Und wie war es für Sie, mit einem solch traditionellen Bekleidungsanbieter zusammenzuarbeiten?

Meine Zusammenarbeit mit der Familie Seidensticker war sehr authentisch, ganz natürlich und aus unserer Freundschaft und Bewunderung für die Arbeit des jeweils anderen entstanden. Zusammen mit dem Kreativdirektor Marc Biggemann, der definitiv einer der bereicherndsten Ästheten ist, mit denen ich das Privileg hatte, zusammenzuarbeiten, haben wir eine Kapselkollektion entwickelt, die meinen persönlichen Stil widerspiegelt. Sie ist von Signature-Looks inspiriert, die ich für mich selbst gefunden habe – kastige, lockere, knackige Hemden-Silhouetten, mit denen sich leicht spielen lässt und die auf vielfältige Weise gestylt werden können, um verschiedene Optionen zeitlos cooler Looks zu kreieren.

Ist auch der klassische Menswear-Kunde bereit für diesen Wandel in der Mode?

Die Mode selbst ist ein sehr einflussreiches Massenmedium, eine Bildungsplattform voller visueller Aussagen, und wir alle wissen, dass wir im Laufe der Zeit durch das, was wir sehen, eine Menge lernen und auf unsere eigene Art und Weise interpretieren können.

Die “klassischen Herrenmode-Kunden" durchlaufen eine langsame, aber deutlich spürbare Entwicklung: weniger dandyhaft, mehr experimentell; weniger dogmatisch in Kleiderordnungen und Hierarchien verankert; offener für moderne Codes und Individualität. Selbst diese "klassischen Typen”, die wir in Marktstudien oft zitieren, nehmen das Leben heute anders wahr: Sie leben auch durch ihre Bildschirme, suchen Inspiration in den sozialen Medien, nehmen sich ein Beispiel an globalen Stilikonen und das meiste, was sie sehen, dreht sich nicht mehr um die alte klassische Art, sich zu kleiden.

Die Mode trifft immer den Puls der Zeit und zeigt, dass die Gesellschaft bereitfür eine Befreiung im Denken, im Konsumieren und für eine neue Modernität ist: im Büro, auf dem roten Teppich, im Bett, auf dem Bildschirm...

Kollektionen werden immer häufiger mit Begriffen wie ‘Unisex’ und ‘Gender-neutral’ betitelt. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung oder fast schon ‘Pinkwashing’?

Es ist eine Tatsache, dass die Mode schon immer ein "sicherer Raum" war, in dem nicht-normative Geschlechtsidentitäten selbstverständlich akzeptiert, gefeiert und gestärkt wurden. Ich freue mich sehr darüber, dass das Thema Gender-Fluidität mehr und mehr aus dem Bereich der Verleugnung oder des Aktivismus herausgetreten ist und in so vielen Bereichen unseres Lebens ins öffentliche Bewusstsein gelangt.

Das Entwerfen einer Unisex-Kollektion spiegelt im Grunde das Verständnis der Verbraucher:innen für die Bekleidungskultur wider – sie feiern die Schönheit und schätzen Aussehen und Haltung jenseits dessen, was als binäre Aufnahme definiert wurde. Die Herrenmode wird sich eindeutig weiterentwickeln und neue Gebiete erforschen. Dies wird definitiv dazu führen, dass viele neue Tendenzen entstehen und die Fluidität präsenter wird. Wir werden unser Standard-Einkaufsmuster in den Abteilungen mehr und mehr in Richtung All-Gender-Sortimente verlagern.

Wie schaffen es Labels eine Kollektion zu entwerfen, die wirklich für alle Geschlechter ist und nicht nur Casualwear mit Pullovern und T-Shirts meint?

Wenn es um das Wesen unserer All-Gender-Stücke geht, neigen wir dazu, eher lässig zu sein: Die Passformen sind eher locker und kastenförmig, die Silhouetten sind überdimensioniert, die Größenbereiche sind fließend. All-Gender-Mode funktioniert über den Gesamtlook und die Haltung, Coolness und Ideologie, die sie vermittelt.

Welchen Tipp würdest du einer Marke auf den Weg geben, die sich einer jüngeren Zielgruppe annähern will?

Die Prioritäten, Werte und Vorlieben der neuen Generation von Kund:innen zu verstehen, ist der Schlüssel, um als legitime Marke in der von ihnen gewünschten Art und Weise wahrgenommen zu werden – frei, verantwortungsbewusst, mühelos, positiv.

Ich frage selbst etablierte Kreativdirektor:innen und renommierte Designer:innen sehr oft, ob sie wirklich wissen, was ihr Publikum bewegt, wie es lebt, wie es konsumiert, wie es seine Zeit verbringt, was es dazu bringt, Geld für Mode auszugeben…

Was haben Sie dabei erfahren?

Es gibt nicht viele, die wirklich viel über das Publikum wissen, für das sie entwerfen. Sie müssen sich mehr mit ihrer gewünschten Kundschaft beschäftigen, Zeit auf dem Markt verbringen und besser verstehen, was Konsument:innen dazu bringt, eine bestimmte Kaufentscheidung für eine Marke oder ein Produkt zu treffen. Die Auseinandersetzung mit den Käufergemeinschaften ist eine Währung, mit der nicht viele Marken umzugehen wissen.

Welche Designer:innen prägen die Herrenmode im Moment?

Die Ästhetik von Gucci in den letzten Jahren unter Alessandro Michele, J.W. Anderson in seiner Arbeit für sein gleichnamiges Label und auch für Loewe, Daniel Lees raffinierte Definition von 'Quiet Luxury', Chitose Abes [Anm. d. Red.: Designerin des Labels Sacai] künstlerische Extravaganz und ihr Spiel mit Stoffen, Längen, Volumen und Schichten, Martine Rose, Miuccia [Prada] und Raf [Simons].

FW23-Kollektionen von Prada, Sacai und JW Anderson (von links nach rechts). Fotos: Launchmetrics Spotlight

Was ist Ihr Must-have-Piece für diesen Sommer?

Ich halte meine Sommergarderobe sehr luftig, locker, boxy und seidig und lebe für Total Looks. Wilde Marni- und Jacquemus-Prints, lange Satin-Kaftane und Hosen mit weitem Bein und Oversize-Shirts sind immer in meinen Urlaubskoffern. Irgendwie bin ich kein Fan von Leinen, was die meisten Menschen im Sommer lieben – es fühlt sich zwar toll auf der Haut an, sieht aber nach den ersten Falten nicht mehr makellos aus.

Was die Kleidungsstücke angeht, so greife ich zu Birkenstock Boston Wildlederclogs in allen Variationen, zu weißen Oversize-Hemden und peppe das Ganze mit auffälligen Taschen von Bottega Veneta und Jil Sander und Ton-in-Ton-Fischerhüten auf. Oh, und ganz oben auf meiner Sommer-Einkaufsliste: ein Paar Prada Penny Loafers für die stimmungsvollen Abende nach einem langen Tag am Strand.

Trendprognose:

    Trends für die nächste Saison:

  • Slough-Jeans mit regulierbarem Bund, strukturierte Barrel-leg-Jeans
  • Nostalgische 90er-Jahre-Reminiszenz in der Herren- und Damenmode
  • Gestrickte Polos und gestrickte Westen (direkt auf der Haut wie ein Tanktop getragen)
  • Lockere Hose mit Plisse, “Semi-tailored”
  • Y2K-Gürtel
  • Zweireihige Jacken, auch in übergroßen Versionen in der Casualwear
  • Weit geschnittene elegante Herren-Shorts, oft überdimensioniert und kastig
  • Überhemden, Utility inspirierte Hemden,Westernhemden und Safarihemden
  • White-Out-Töne im Gesamtlook und vor allem in der Soft Tailoring
  • Digital Wave Prints (Hemden,Gesamtlook)
  • Transparenz in T-Shirts, Hemden, dekorative Elemente und transparente Lagen
  • Re-worked Tanktops
  • Kontrastierende Ziernähte auf Hemden, Hosen und Oberbekleidung
  • Skorts (Hybrid aus Shorts und Rock)
  • Farben

  • Radiant Red
  • Mellow Peach
  • Nutshell, Beiges und Burl Wood
  • Chalk, Oat Milk und Clay
  • Nephrite
  • Cornflower
  • Cyber Lime

Zu guter Letzt: Wie ist dein erster Eindruck von der Pitti Uomo 104?

Bei uns [Anm. d. Red.: Seidensticker-Stand] war schon am ersten Tag einiges los und wir haben ein tolles Feedback bekommen.

Welche Marken sollten Buyer bei der Pitti im Auge behalten?

Ich hatte noch nicht viel Zeit mich umzuschauen. Sie sollten aber auf jeden Fall Ksenia Schneider, Permu, Do, Hul Le Kes und natürlich Rossi und Seidensticker im Auge behalten.

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