Trends AW21: Das ‘New Normal’ nach der Pandemie
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Wie drückt sich das ‘New Normal’ nach der Pandemie in den AW21-Trends aus? Die Trendforscher des Deutschen Mode-Instituts erklären beim digitalen DMI Fashion Day das Zeitgefühl nach dem Covid-19 Ausbruch und fassen in vier Themen zusammen, welche Farben und Materialien das am besten ausdrücken.
Lebensgefühl nach der Pandemie
Viele Modeunternehmen fragen sich, wie sie auf den Konsumeinbruch während der Pandemie reagieren sollen. Produzieren, was wirklich verbraucht wird, sagt DMI-Geschäftsführer Gerd Müller-Thomkins gleich zum Beginn der Trend-Vorträge. Nicht nur den lange bekannten Problemen der Überproduktion und Nachhaltigkeit müssen sich die Unternehmen stellen, sondern auch der Digitalisierung.
“Überall sehen wir bereits begonnene Entwicklungen verstärkt. Das ist ein Merkmal der Krise selbst. Was Textil und Bekleidung solange mit heißer Nadel und dünnem Faden auf Kante genäht hat, das erreicht jetzt seine vorhersehbare Sollbruchstelle”, sagt Müller-Thomkins. Aber er gibt auch Mut: “Die Mode ist noch lange nicht am Ende.” Wenn sie es versteht das Zeitgefühl einzufangen.
DMI-Farbexperte Niels Holger Wien fasst das Lebensgefühl nach dem Ausbruch der Pandemie mit sechs Begriffen zusammen. Covid-19 hat das Gemeinsamkeitsgefühl der Menschen verstärkt. Nach den Jahren der stets weiter fortschreitenden Individualisierung, erscheint dieses Gefühl neuartig im 21. Jahrhundert, sagt Wien. Einen modischen Vorgeschmack bot die Modenschau für Herbst-Winter-2020 des japanischen Labels Issey Miyake, in der Models in neutralen Farben am Ende als “textile Gemeinschaft” über den Laufsteg schritten.
“Slowbalisation”, ein anderes, langsameres Tempo bei der Globalisierung, bedeutet, dass es nicht mehr schneller und billiger gehen kann. “Es geht um lokales, nachhaltiges Sourcing”, Slow fashion, slow design, sagt Wien. Eng damit verbunden ist auch unser verändertes Zeitgefühl: “Wir nehmen die Zeit plötzlich anders war, sie vergeht viel langsamer.” Die Menschen werden auf sich selbst zurückgeworfen. Dazu kommt die fortschreitende digitale Integration: Videokonferenzen werden gängiger, der US-Rapper Travis Scott gab im April ein Konzert im Onlinespiel Fortnite, ein Online-Orchester spielt gleichzeitig mit tausend vernetzten Musikern, die Londoner Modewoche fand digital statt und mit den neuen Möglichkeiten finden sich auch neue Gestalter im digitalen Raum ein.
”Zurück zum Einfachen und Bekannten ist schwierig geworden”, sagt Wien. Stattdessen müssen die Menschen in einem ‘New Normal’ leben, in dem Distanz zu einem wichtigen Design-Thema wird ‒ wie das weiße Cover der italienischen Vogue-Ausgabe im April oder Raumteiler in Läden und Restaurants zeigen. Für die Mode gilt hier: Die Menschen habe gelernt mit dem, was notwendig ist und mit weniger auszukommen. Gleichzeitig schätzen wir aber auch ihre Übertreibung, sagt Wien. “Mode ist ein Stück Selbstbestimmung, das werden wir schätzen.” Zuletzt wird auch Nachhaltigkeit bedeutender; es wird an neuen Materialien geforscht, sie werden kreislauffähig und Mode wird upgecycelt.
Dieses neue Zeitgefühl haben die Trendforscher des DMI in vier großen Themen für AW21 übersetzt: Wisdom, Attitude, Appreciation und Joy. Kennzeichnend für diese Trends ist nicht zuletzt ihre Gegensätzlichkeit: Beruhigung auf der einen Seite bis zum offensiven, lauten Fashion Statement auf der anderen.
Wisdom
Bei dem ersten Thema ‘Wisdom’ werden die Farben durch Materialien bestimmt ‒ Handwerk wird in den Farben sichtbar, erklärt Wien. Meist sind es neutrale, tiefe dunkle Töne: Von Grau bis zum dunklen Nachthimmel-Blau, dazu Naturweiß und weiche Töne, die die Strukturen und Texturen unterstützt werden ‒ von Beige über Holz bis Honig, Pastellfarben mit Lichtrosa und -gelb.
Die Menschen suchen nach Komfort und Materialien, die länger mit uns leben, auch mehr Kontur kommt in die Kleidung, sagt DMI-Stoffexperte Winfried Rollmann. Die Materialien, die dieses Verlangen erfüllen, sind Strick, leichter Nappa, fließender Jersey, Kaschmir. Leicht, transparent und architektonisch kommen die Stoffe daher. Teddy und Bouclé bleiben erhalten, dazu ein 3D-Strick, der Struktur schafft, sowie pastelliges Mohair und Felloptiken.
Attitude
Das zweite Thema Attitude steht in starkem Kontrast zum vorhergehenden: Hier geht es um eindrückliche Inszenierungen, wahnsinnig ersehnte Rottöne, ausgeglichen von dunklen Tönen, sagt Wien. Lichte Töne bringen Farben zum Leuchten, spannungsreiche Kontraste bilden sich zwischen Rot- und Violett-Tönen, sowie kühlen und leuchtenden Farben.
Schwarzes Nappa ist ein Schlüsselelement der Saison, ergänzt durch Satins und andere seidige Stoffe, sagt Rollmann. Gold wird wichtig in den Accessoires und Ausstattungen, Kettendrucke kommen als Foulardprints. Lichtreflexe auf Latexstoffen provozieren, zwischen und Rot und Viola geht es um “Tech und Shine”. Fransen sind ein Star-Thema, auch über den gesamten Körper. Zarter und sensitiver wird das Thema durch größere Blüten, transparente Materialien, eine Art Neo-Art-Deco mit Jacquards, Stickereien ‒ ein dunkle, schwarze Verführung, geheimnisvoll, schimmernd wie ein Paillettenkleid.
Appreciation
Lebendige und imperfekte Farben, Naturtöne und neutrale Töne prägen das Thema Appreciation, zu deutsch Wertschätzung. Die Farbpalette reicht von weichen, pastellen Lederfarben und Zimtbraun bis zu Moostönen, warmen Grautönen, Indigotönen oder einem cremigen Orange einer Butternuss.
Twills in grünen Naturtönen drücken die Wertschätzung der Natur aus, ebenso Strick, authentische Materialien wie Shetland und Loden. Es gibt auch Materialkontraste wie Lammfell zu technischen Stoffe. An Vintage-Kleidung erinnernde Oberflächen, Used-Effekte und Folk-Stickereien drücken auch die Wertschätzung gegenüber dem natürlichen Altern der Dinge aus. Denim wird stärker mit weiteren Silhouetten, dazu kommt das Upcycling von Materialien wie mit Deadstock oder durch Patch-Flanell sichtbar. Handgefertigte, all-over bestickte Pullover, unterstreichen die Sorgfalt bei der Verarbeitung.
Joy
Das letzte Thema ‘Joy’ ist etwas für Neonerds, die sich nicht scheuen kreativ zu sein und dabei auch mal seltsam oder steif zu wirken, sagt Rollmann. Farben prallen hier aufeinander, überschwängliche, grafische Farben, die Materialien sprengen und rhythmische Wirkung entfalten, sagt Wien. Chilirot, intensive Grau- und Blautöne bringen Grautöne zum vibrieren, dazwischen ein Farbflash aus Lichtorange.
Der kreative Ausdruck von Joy findet Ausdruck in künstlichen Fellen, in seltsamen Fällen, zufällig gepatcht. Geometrische Muster sitzen naiv auf Strick, kleinkarierte Stoffe, Materialkontraste auf gefütterter Oberbekleidung ergeben neue Farbharmonien.
Bild: Issey Miyake AW20 Catwalkpictures