Wie kann digitales Modedesign uns helfen, nachhaltiger zu werden?
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Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an digitale Mode denken? AR-Filter? Kleidung für Avatare? Skins für Spiele? Digitale Mode ist all das und könnte uns auch zu einem gerechteren und nachhaltigeren Modesystem verhelfen. Und zwar nicht nur, was die Produktionsphase betrifft, sondern auch die Verringerung des Abfalls bei Mustern und am Lebensende eines Produkts. Nachhaltige Praktiken können von digitalen Modedesignern übernommen werden, um einen besseren Produktionsprozess zu gewährleisten, von der Kreation bis zur Kundschaft.
Ein wichtiger Ansatz für eine Marke, um Nachhaltigkeit in die Kalkulation aufzunehmen, ist die Anwendung der Ziele für nachhaltige Entwicklung. Die von den Vereinten Nationen entwickelten Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) sind ein Aktionsplan für die Menschen, den Planeten und den Wohlstand. Sie sollen für mehr Transparenz und Verantwortlichkeit sorgen. Diese 17 Ziele zielen darauf ab, die Armut zu beenden, die Umwelt zu schützen und Wohlstand für alle Menschen zu sichern.
Um zu erörtern, auf welche Weise die SDGs das Modesystem nachhaltiger machen können, haben wir fünf Expert:innen für digitale Mode und nachhaltiges Business eingeladen, ihre Gedanken, Pläne und Projekte mit uns zu teilen. Alle fünf haben unterschiedliche Hintergründe, aber ein gemeinsames Ziel: eine nachhaltige Wirtschaft.
Was bedeuten die SDGs, die Ziele für nachhaltige Entwicklung, für die Modeindustrie?
„Jedes Mal, wenn ich einen Vortrag über die SDGs halte, scheint es, dass die Statistiken schlechter werden“, sagt Merunisha Moonilal, Akademikerin, Beraterin und digitale Professorin für Kreislaufwirtschaft an der TDFG Academy. Von den 17 globalen Zielen hat die UNO die Modeindustrie ausdrücklich dazu aufgefordert, sich vier Hauptziele zu eigen zu machen:
Moonilal erklärt zum Beispiel, dass es bei SDG 4 darum geht, inklusive Bildung auf allen Ebenen zu ermöglichen. Für die Modebranche bedeute dies, die Kluft zwischen den Geschlechtern zu beseitigen, bei der statistisch gesehen mehr Jungen als Mädchen die Schule besuchen, die Liefer- oder Wertschöpfungsketten der Modebranche aber zu 80 Prozent aus Frauen bestehen. Bei SDG 9 geht es darum, dass wir trotz des rasanten technologischen Fortschritts dafür sorgen, dass menschliche Arbeit nicht durch Automatisierung ersetzt wird. Es geht auch darum, dass die Arbeitskräfte nicht entmündigt werden, sondern dass sie für qualifiziertere Positionen ausgebildet werden, damit auch künftige Generationen mit diesen Technologien arbeiten können.
„Menschenrechtsverletzungen sind in der Bekleidungsherstellung leider an der Tagesordnung. Fragen der Geschlechter-, Klassen- und ethnische Vielfalt in Führungspositionen sind immer noch allgegenwärtig, ganz zu schweigen von der Zerstörung unserer natürlichen Umwelt und Ressourcen durch Toxine. Dennoch ist die Bekleidungs- und Textilindustrie ein grundlegendes wirtschaftliches Rückgrat unserer globalen Wirtschaft, und es ist wichtig, dass die Modebranche als Ganzes die SDGs von sich aus annimmt. Die Integration der SDGs ist von großer Bedeutung, um die lineare in eine zirkuläre Lieferkette umzuwandeln“, erklärt Moonilal.
Was ist das zirkuläre Modesystem?
„Das zirkuläre Modesystem besteht im Wesentlichen darin, dass Abfall vermieden wird. Und wir bewegen uns darauf zu, indem wir versuchen, bereits vorhandene Ressourcen zu nutzen, so dass wir keine neuen Ressourcen verwenden oder gar nicht erst produzieren müssen“, erklärt uns Alexia Planas Lee, die Gründungspartnerin und Leiterin der Abteilung Impact Design and Innovation beim Circular Fashion Summit by Lablaco.
Die Expertin für Kreislaufwirtschaft erklärt außerdem, dass „es drei Phasen eines Kleidungsstücks gibt, in denen Verbesserungen möglich sind: Materialien, Prozess und Verbrauch. Im Fall der digitalen Mode können wir sehen, wie sie auf der Materialebene bei der Auswahl der Materialien hilft. Es gibt Unternehmen, die hervorragende Renderings von Materialien erstellen, so dass Sie keine Muster mehr verschicken müssen. Musterstücke, die für jede einzelne Marke oder Modeschaffenden, der mit ihnen arbeitet, im Abfall landen.“
„Technologien wie das IoT (Internet of Things) ermöglichen es uns, den Weg eines Kleidungsstücks von Anfang bis Ende zu verfolgen. So können die Verbraucher:innen die gesamte Reise dieses Kleidungsstücks nachvollziehen und die Marke kann sie verfolgen. So haben wir zum Beispiel vor ein paar Monaten mit H&M ein IoT-Mietsystem in deren Geschäft in Berlin eingeführt. Dies ermöglichte es den Menschen, ihre Produkte nachzuverfolgen", so Planas Lee.
Das Potenzial von digitaler Mode für ein nachhaltiges System
Für Evelyn Mora, CEO & Mitbegründerin von Digital Village, denken wir als Branche noch zu klein, was das Potenzial von digitaler Mode für ein nachhaltiges System angeht: „Wir müssen in einem großen, globalen Maßstab darüber nachdenken, wie digitale Mode die physische Mode tatsächlich beeinflussen kann. Ich glaube nicht, dass man die physische Modeindustrie, die eine 800 Milliarden US-Dollar Industrie ist, durch digitale Mode ersetzen kann. Aber ich glaube, dass der Konsum und unsere Beziehung zu Kleidung, die Art und Weise, wie wir uns ausdrücken, von der digitalen Mode beeinflusst werden kann.
Und sie fügt hinzu: „In der Modeindustrie geht es darum, Träume und Identitäten zu verkaufen. Es geht um so viel mehr, als nur um Kleidung. Und ich glaube nicht, dass irgendeine Modemarke das auf zu Ende gedacht hat und die digitale Technik auf eine Art und Weise nutzt, die unsere physischen Konsumgewohnheiten verändert.“ Mora ist der Meinung, dass die Modemarken und -unternehmen noch viel Arbeit vor sich haben. Die Lieferkette muss mit einbezogen werden, Transparenz sollte durch die Rückverfolgbarkeit von NFTs durchgesetzt werden und wir müssen auch dafür sorgen, dass alle, die in der Branche arbeiten, fair bezahlt werden.
„Es ist eine Tatsache, dass die digitale Mode bisher keine signifikanten Auswirkungen und Ergebnisse erzielt hat, die die Mode nachhaltiger machen. Wird das passieren? Sicher. Das ist ein größeres Bild, eine langfristige Aufgabe, an der wir gerade arbeiten", schließt Mora.
Für Olga Chernysheva, Chief Officer Sustainability bei Dressx, hat die digitale Mode bereits Auswirkungen darauf, wie Produkte hergestellt und konsumiert werden. Als Beispiel nennt sie ein Projekt in Partnerschaft zwischen Dressx und Farfetch, bei dem es um die Reduzierung des CO2-Fußabdrucks durch On-Demand-Produktion geht: „Bevor wir darüber sprachen, wie digitale Mode durch physische Mode für den täglichen Konsum ersetzt werden kann, haben wir mit der Marke zusammengearbeitet. Wir entwarfen eine rein digitale Kapselkollektion und machten das gesamte Marketing digital. Influencer:innen wurden digital eingekleidet, nichts wurde produziert. Und gleich nach der Kampagne sammelte Farfetch die Bestellungen und die physischen Kleidungsstücke wurden auf Abruf produziert. Für die 40 Kleidungsstücke, die für diese Capsule Collection hergestellt wurden, haben wir 2,5 Tonnen an Kohlenstoff eingespart.“
Um ein Gefühl für die Größenordnung zu bekommen: Der CO2-Fußabdruck eines digitalen Kleidungsstücks beträgt nur drei Prozent eines traditionell hergestellten Baumwoll-T-Shirts. Diese Berechnung des CO2-Fußabdrucks basiert auf einer Studie, die 2020 von Dressx veröffentlicht wurde, und die Methodik ist auf deren Website zu finden. Es gibt auch eine von Evelyn Mora für Digital Village im August 2020 veröffentlichte Studie über die Kohlenstoffemissionen der digitalen Mode und ihre Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit mit einigen Gegenpunkten, die zur Relevanz und Komplexität des Themas beitragen.
Design als nachhaltiger und empathischer Prozess
Für Roei Derhi, Gründer und Kreativdirektor von Placebo Digital Fashion House, „geht es bei Mode um Identität. Und wenn wir über die SDGs sprechen, wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, dann reden viele Leute darüber, wie sich das auf die Umwelt auswirkt. Für uns bei Placebo bedeutet Nachhaltigkeit, wie wir den Menschen im 21. Jahrhundert definieren. Welche Art von Menschen wir sein wollen. Nachhaltigkeit ist Empathie, ist die Art und Weise, wie die Welt so klein wird und wie wir Empathie schaffen, ohne physische Grenzen zwischen Ländern und all die Ergebnisse der SDGs: Gleichberechtigung der Geschlechter, Empathie für andere Menschen.“
„Die digitale Mode ist nicht deshalb so explodiert, weil sie ein neues Denken über Mode oder über Nachhaltigkeit ist. Sondern, weil die Menschen nach Eskapismus suchen. Die Menschen suchen nach einer Definition ihrer selbst, und in der Mode geht es um Identität“, sagt Derhi. „Und als Designer:innen sollten wir uns selbst, unserer Kundschaft und unserer Gesellschaft gegenüber verantwortungsbewusst sein, wenn es um die Frage geht, wie wir diesen Eskapismus anbieten wollen. Der kreative Designprozess sollte von einer einfühlsamen Perspektive ausgehen und soziale und ökologische Nachhaltigkeitsbelange einbeziehen.“
Wir alle wissen, dass die Modeindustrie noch weit davon entfernt ist, die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung zu erreichen. Aber verschiedene Initiativen können zu einem nachhaltigeren System führen. Umweltpolitik, Kreislaufwirtschaft, digitales Design, Digitalisierung des Produktionsprozesses, Recycling, Reparieren und Wiederverwenden und das Bewusstsein der Menschen – all das muss Hand in Hand gehen. Es gibt keinen einfachen Weg und auch nicht die eine geniale Lösung. Es ist eine Teamarbeit und jeder muss seinen Teil dazu beitragen.
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Dieser Artikel wurde zuvor auf FashionUnited.uk veröffentlicht. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ.