Who's Next September 2023: Wird Wholesale die Mode retten?
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Während der Spätsommer Paris noch einmal in Hitzewallungen brachte, öffnete die Who's Next vom 2. bis 4. September ihre Pforten für die Modebranche für eine besonders lebhafte Veranstaltung. FashionUnited berichtet von den Messeerfahrungen.
Am Eingang werden Ausweise und Identitäten der Besucher:innen mehrfach von Sicherheitsleuten überprüft. In diesen „Tempel des Wholesale“, wie die Messe von den Organisator:innen genannt wird, kommen nicht alle rein. Sobald man jedoch die Absperrungen passiert hat, wird der Empfang wärmer. Ein amerikanischer Schulbus ist vor den Haupttoren geparkt, um den Schulbeginn mit Musik zu feiern. Es ist gerade mal 10 Uhr und schon erfreut die Karaokeanlage eine Gruppe junger Mädchen, die mit Vollgas zu einem aktuellen Song loslegt. Ein paar Meter weiter legt ein DJ auf, der sich in luftiger Höhe vor seinen Plattenspielern niedergelassen hat, gegenüber von Foodtrucks, die schon bald den Appetit anregen werden.
Durch die Türen gelangt man in einen Tunnel aus zerknittertem Papier, der mit Bumble Gum parfümiert und mit Kritzeleien im Schulhof-Stil verziert ist. Die fröhliche Atmosphäre des Themas „Schulanfang“ (oder „Back to school“) schafft es, Besucher:innen mitzureißen und gleichzeitig die aktuelle Dynamik des Vertriebskanals Wholesale widerzuspiegeln.
Wholesale: ein Riesenabsatzkanal
Laut einer Studie aus dem Jahr 2023 der digitalen Plattform Joor, die sich dem Großhandel widmet, erwarten internationale Modemarken in diesem Jahr ein Wachstum von 27 Prozent in ihren Wholesale-Kanälen. Mehr noch, im Jahr 2023 würden die Umsätze in diesem Kanal sogar steigen: 75 Prozent der Marken gaben an, dass der Anteil ihres Geschäfts aus dem Großhandel gleich oder höher als im Vorjahr sei, während 33 Prozent von einer Verschiebung vom Einzelhandel zum Großhandel berichteten.
Zu den Vorteilen des Wholesale-Kanals gehört die Erschließung neuer Märkte, was einem Wirtschaftsziel der Regierung entspricht, das Ende August von Olivier Becht, dem Minister für Außenhandel, Attraktivität und Auslandsfranzös:innen, angekündigt wurde. Das Vorhaben: ein neuer Exportplan, der über vier Jahre mit 125 Millionen Euro laufen soll. Ziel ist es, die Zahl der französischen Unternehmen, die exportieren, bis 2030 von 150.000 auf 200.000 zu erhöhen.
In diesem Zusammenhang war der Besuch der Who's Next von Olivia Grégoire, der Ministerin für kleine und mittlere Unternehmen, Handel, Handwerk und Tourismus, auf der Messe eine „wichtige Geste der Anerkennung für die Branche“, schreibt Yann Rivoallan, Präsident der Fédération du Prêt à Porter, auf seinem Linkedin-Account. In Frankreich verzeichnete der Bekleidungssektor zwischen Januar und Juni 2023 übrigens einen Anstieg der Exporte um 12 Prozent im Vergleich zum entsprechenden Zeitraum im Jahr 2022 (diese Zahl wurde vom Institut Français de la Mode gemäß den französischen Zollbehörden erhoben).
Allerdings, und das ist kein Geheimnis, haben Einzelhändler:innen im Bereich Bekleidung (außer Luxus) mit Schwierigkeiten zu kämpfen: gerichtlich angemeldete Sanierungswellen, Rückgänge der Verkäufe von Bekleidung und Textilien im Vergleich zum Zeitraum vor Covid... Angesichts dieser Situation erscheint der Großhandel für viele Akteur:innen des Segments als eine Achse der Widerstandsfähigkeit und des Wachstums. „Der Großhandel, der von den Marken immer mehr überdacht wird, ist in der Tat wieder zentral und setzt sich als eine lohnende Strategie durch“, hieß es in der Pressemitteilung der Messe.
Für Sylvie Pourrat, Leiterin des WSN-Angebots, ist Wholesale in erster Linie eine Frage der Sichtbarkeit. „Heute befinden wir uns wirklich in einem Szenario, in dem es darum geht, für so viele Menschen wie möglich sichtbar zu sein. Alle können reisen, aber nicht alle tun es; alle können überall hinkommen, aber nicht alle tun es. Man stellt fest, dass man oft zu Hause sitzt und im Internet bestellt. Irgendwann muss man also in Bezug auf das multidisziplinäre Publikum an Konvergenzorten sein, man muss in die Kaufhäuser gehen, dorthin gehen, wo man nicht unbedingt Geschäfte eröffnen wird, aber wo man ein etwas breiteres Ökosystem vorfindet als das Viertel, in dem man sich positioniert, wenn man sein eigenes Geschäft eröffnet.“
Außerdem verändert sich die Funktionsweise des Wholesale-Geschäfts. „Früher wurde ein Wholesale-Modell nach einer mathematischen Gleichung geschrieben, mit einer Berechnung der Gewinnspanne und so weiter“, erklärt Sylvie Pourrat. „Heute ist das alles im Umbruch“. Die Direktorin erwähnt insbesondere das Auftreten der Digital Native Vertical Brands (DNVB) im Wholesale, die Pop-up-Stores in Kaufhäusern wie Bon Marché oder Galeries Lafayette organisieren, obwohl ihr Grundmodell eher auf Direct-to-Consumer ausgerichtet ist. „Das ist es, was heute interessant ist“, fährt Pourrat fort, „zu sehen, wie sich dieses Modell an die Bedürfnisse des Marktes anpasst“.
Who’s Next, Tor zum internationalen Markt
Die Who's Next, die seit fast dreißig Jahren das Aushängeschild des Wholesale ist, gilt als Tor zur Welt für französische Marken, aber sie überzeugt mittlerweile weit mehr als nur die Unternehmen aus diesem Land. In dieser Saison kamen 58 Prozent der Aussteller:innen aus dem Ausland (im Januar waren es noch rund 51 Prozent).
Am Stand der hübschen brasilianischen Marke Marie Mercié sprach man von dem Wunsch, in Frankreich und Europa Fuß zu fassen, während man bei Maria Pavan, einer Marke aus demselben Land, auf Instagram erklärte, „gute Geschäfte gemacht zu haben“; die Marke werde nun an „vielen Orten auf der ganzen Welt“ zu finden sein. Bei dem chinesischen Label Fenggy schließlich freute man sich, dass man Einkäufer:innen aus Indien, Spanien, den USA und Frankreich getroffen hatte.
Zum ersten Mal empfing Who's Next eine chinesische Delegation, die Messe Chic Expo. Und mit ihr rund 20 in China etablierte Marken, von denen einige bereits über 2.000 Boutiquen im Land verfügen.
„Ich wollte einen Gegenpol zur Shein-Polemik bieten“.
„Es war nicht leicht, auf diesem Gebiet zu arbeiten“, gibt Pourrat zu. „Aber ich habe seit sechs Monaten meine ganze Energie darauf verwendet, weil ich einen Gegenpol zu der Shein-Polemik bilden wollte, die eine echte Polemik ist. Alle haben eine Vorstellung von chinesischer Mode, aber niemand weiß, wie sie letztendlich zusammengesetzt ist. Und ich finde es immer gut, darüber sprechen zu können, zu diskutieren, zu polemisieren oder nicht, Haltungen zu verteidigen, wenn man die richtigen Elemente in der Hand hat, um dies tun zu können. Es war mir wichtig zu zeigen, dass die chinesische Mode auch aus Gruppen besteht, die organisiert sind und denen das Nachhaltigkeitsbewusstsein in Fleisch und Blut übergegangen ist, sie sind zwar quantitativ, aber qualitativ hochwertig. Sie haben 2.000 Boutiquen, aber China ist nicht Frankreich, sie sind gezwungen, groß zu denken. Es ist nicht die Menge an Geschäften, die zu einem Qualitätsverlust führt.“
Auf Seiten der chinesischen Organisation ist das Ziel klar. „Wir möchten über die Plattform von Who's Next eine Botschaft des kulturellen Austauschs vermitteln und die chinesische Mode bekannt machen“, erklärt Liu Yan, Organisatorin der Beijing Fashion Expo, die die China International Clothing & Accessories Fair (CHIC) veranstaltet, gegenüber FashionUnited. „Wir wollen Europäer:innen zeigen, was chinesische Kreativität ist.“
Einige Marken aus dem Bereich „Made in China“ haben potenzielle lokale Partner:innen in Europa und Nahost gefunden. Doch abgesehen von den Verträgen bietet der Besuch dieser in China bereits sehr beliebten Labels die Gelegenheit, ein erstes ausländisches Feedback zu erhalten, zu sehen, wie ihre Kollektionen in Frankreich und international aufgenommen werden, und sich mit den Transaktionsmethoden in Europa vertraut zu machen, die insbesondere den Export betreffen.
Das Angebot im CHIC-Pavillon spiegelt eine Ästhetik wider, die orientalische und internationale Inspiration kombiniert. Der Stil der Marken K-Boxing und Joeone ist zum Beispiel sehr modern. Einige der ausstellenden Unternehmen arbeiten bei der Entwicklung ihrer Kollektionen bereits mit europäischen Designer:innen zusammen.
Eine weitere ausländische Akteurin, die sich in dieser Saison zur Who's Next gesellt, ist die Neonyt. Nach der Teilnahme im Januar durch einen Informationsstand war die deutsche Messe ein konkreter Akteur dieser neuen Ausgabe und brachte zwölf sogenannte „öko-verantwortliche“ Marken mit. Die Organisator:innen gehen davon aus, dass sich diese Zahl für die nächste Ausgabe im Januar 2024 verdoppeln wird.
Um Marken zu treffen, die sich der Umweltproblematik bewusst sind und Kollektionen herstellen, die weniger Energie und natürliche Ressourcen verbrauchen, musste man jedoch weder den Neonyt-Bereich noch den Impact-Bereich besuchen, der ebenfalls dem Thema gewidmet war. Viele der ausstellenden Bekleidungsunternehmen haben in ihren Prozessen die Reduzierung von CO2-Emissionen berücksichtigt oder eine umweltfreundlichere Produktion entwickelt.
Les Racines du Ciel, eine ethische Prêt-à-porter-Marke, die seit mehreren Saisonen unter dem Impact-Banner ausstellt, bat um eine Neupositionierung in ihrem ursprünglichen Kreativbereich, „Fame“. Sie war also außerhalb des Neonyt-Markenpools zu finden
Ein weiteres Beispiel für engagierte Marken, die in der „Fame“-Zone angesiedelt sind, ist Sissel Edelbo. Dieses dänische Label bietet Upcycling-Kollektionen an, bei denen jedes Stück ein Unikat ist. Die Marke ist derzeit sehr erfolgreich und wurde gerade in Le Bon Marché aufgenommen. Sie wurde 2004 gegründet, aber „seit drei Jahren geht es richtig los“, versichert Pierre-Henri Bernex, Sales and Marketing Associate im Showroom Trendsetteuse.
Während Marken, die als nachhaltig vermarktet wurden, früher nicht mit Labels verwechselt werden wollten, die als umweltschädlicher galten, setzt sich heute in der Modebranche der Stil durch. „Es ist die Wahrheit des Marktes, die spricht“, bemerkt Pourrat.
Eine sorgfältige Kuratierung
In dieser Saison kommuniziert die Messe eine „verstärkte Auswahl“ der 1.200 Aussteller:innen. „Wir sind mit einer Flut von Anfragen aller Art konfrontiert“, erklärt Sylvie Pourrat. „Nicht, weil wir die Besten sind, sondern weil wir sozusagen die einzige europäische Messe sind, die für Damenmode von Bedeutung ist. Unsere sogenannten Konkurrenzmessen haben Schwierigkeiten, sich zu erholen. Daher ist die Who's Next ein wenig standardmäßig zum internationalen Treffpunkt geworden, wo die Leute nachfragen. Das ist toll, nur dass es nicht die Masse und die Quantität ist, die unsere Messe ausmacht, sondern die Botschaft, die die Auswahl vermittelt. Wir haben uns in den letzten dreißig Jahren um die Tatsache herum aufgebaut, dass wir die Bedürfnisse bekannter Märkte befriedigen müssen. Wir wissen, was uns fehlt, das kann die mollige Frau sein und so weiter.“. Die „verstärkte Selektion“ wurde also von dem Bedürfnis geleitet, die Marktsegmente, die es nötig hatten, neu zu materialisieren.
Diese sorgfältige Kuratierung wurde in einem an Animationen reichen Rahmen präsentiert. Kaugummi-Bar, Taschen-Bar, Karaoke, die Kabine von Dr. Love und vieles mehr. An Aktivitäten mangelte es nicht. „Die Leute kommen, um nach Inspiration und Momentum zu suchen“, erinnert Pourrat und fügt hinzu, dass die Mission der Organisator:innen darin besteht, „mit Emotionen zu arbeiten“.
Die Ausgabe von Who's Next im September 2023 war erlebnisorientierter denn je und spiegelte somit das aktuelle Ziel von Multimarkengeschäften, Kaufhäusern und Concept Stores wider: Käufer:innen Emotionen zu bieten, sie zu inspirieren und ihnen Lust auf mehr zu machen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf FashionUnited.fr. Übersetzt und bearbeitet von Simone Preuss.