HW24: Zeitreisen, Rückblicke und (holprige) Debüts auf der Pariser Modewoche
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Als Nicolas Ghesquière gestern Abend, auf den Tag genau zehn Jahre nach der Präsentation seiner ersten Kollektion für Louis Vuitton, in den Cour Carrée im Louvre zurückkehrte, schloss er, wie es für die Marke üblich ist, ein vollgepacktes Programm der Pariser Modewoche für Herbst/Winter 2024 ab.
Der Designer, der noch mindestens fünf Jahre an der Spitze des französischen Luxushauses stehen wird, nahm die über 4000 Gäste seiner Jubiläumskollektion mit auf eine Reise in die Vergangenheit und lud sie gleichzeitig in ein futuristisches Raumschiff ein, das von dem Künstler Philippe Parreno entworfen wurde. Die Kollektion war selbstreferenziell und bot ein Kompendium seiner größten Hits, seiner gut dokumentierten Liebe zur Science-Fiction sowie flüchtige Erinnerungen an seine Balenciaga-Tage. Gleichzeitig huldigte sie der Vergangenheit des Hauses mit Kleidern mit Seidenprint, die an Vuittons monogrammierte Koffer erinnerten. Die Show endete mit einer Ovation für den Designer, der auch nach zehn Jahren immer noch an seiner einzigartigen Vision festhält, und einem sichtlich gerührten Nicolas Ghesquière, der sich bescheiden verbeugte und gleichzeitig vor Stolz strahlte – wohl wissend, dass zehn Jahre an der Spitze einer Marke in der heutigen Zeit fast ein Novum sind.
Das am schlechten gehütete Geheimnis in ganz Paris
Einige Anwesende hatten jedoch kaum Zeit zu feiern oder Ghesquière zu gratulieren, denn obwohl Vuitton die Herbst/Winter-Saison 2024 offiziell abgeschlossen hatte, war das Modespektakel noch nicht vorbei. Inzwischen wusste die Branche, dass das leise, aber hartnäckiges Gerücht über eine überraschende Saint Laurent Menswear-Show, das in den sozialen Medien die Runde gemacht hatte, der Wahrheit entsprach. Und so ließ der Kreativdirektor Anthony Vaccarello nur wenige Tage nach der Präsentation seiner neuesten Damenkollektion eine „geheime“ Herrenmodepräsentation folgen.
Die Show, die im Museum des Kering-Eigentümers François Pinault, der Bourse de Commerce – Pinault Collection, stattfand, war eine wesentlich intimere Angelegenheit als Vuittons Großveranstaltung und bot nur etwa hundert Personen Platz. Den Eingeladenen wurde eine Kollektion präsentiert, die, ähnlich wie die Vuittons-Show, stark vom Archiv der Marke, oder besser gesagt von ihrem Gründer Yves Saint Laurent selbst, beeinflusst war. Die Models glichen dem verstorbenen Designer, wäre dieser mit dem fiktionalen Serienmörder Patrick Bateman liiert gewesen: 80er-Jahre-Power Anzüge mit starken Schultern, zurück gegelte Haare, Brille.
In den vergangenen Saisons standen die Herren- und die Damenmode von Saint Laurent in ständigem Dialog miteinander, wobei sie sich stellenweise Formen und Silhouetten ausliehen. Die Herrenmode dieser Saison und ihre starke Betonung der Schneiderei schien jedoch weit entfernt von der vorangegangenen Damenmode. Bei den Damen trat die Schneiderei größtenteils in den Hintergrund, während der Fokus auf transparenter Handwerkskunst und Strumpfwaren lag. Eine Wahl, die zwar im Erbe der Marke und ihrem ersten durchsichtigen Look von 1966 verwurzelt ist und mit der Eröffnung der Ausstellung „Sheer: The Diaphanous Creations of Yves Saint Laurent“ (Die durchsichtigen Kreationen von Yves Saint Laurent) einhergeht, und dennoch Anlass zu Kritik gab – eine Seltenheit in Vaccarellos Amtszeit bei Saint Laurent.
Während Vaccarello für seine Damenmode auf die 60er-Jahre zurückgriff, ging Virginie Viard für ihre Herbst/Winter-Kollektion bis zu den Anfängen von Chanel zurück. Viard unternahm nicht nur eine Zeitreise in das Jahr 1912, als für Gabrielle Chanel alles begann, sondern holte auch die kleine Küstenstadt Deauville nach Paris. Dort, in der kleinen Stadt, die als „Pariser Riviera“ bekannt ist, eröffnete Gabrielle Chanel ihre erste Boutique, in der sie anfangs Hüte verkaufte, bevor sie eine für die damalige Zeit androgyne Konfektionslinie aufnahm. So war es nur natürlich, dass Viard ihre Kollektion, die auf einem Laufsteg in Form einer Strandpromenade präsentiert wurde, mit einem Hut begann. Was folgte, war eine Kollektion, die sich an Matrosenuniformen orientierte und in Pullovern, Strickjacken und langen Mänteln, die irgendwo zwischen langen Mänteln und Peacoats angesiedelt waren, sowie in fließenden Kleidern und Jeans umgesetzt wurde, natürlich ohne den bevorzugten Stoff von Chanel zu vernachlässigen: Tweed.
Eine Erzählung von zwei Debüts
Die Zeitreise zurück in die Archive einer Marke war jedoch noch nicht zu Ende. Für ihr Chloé-Debüt zollte Chemena Kamali dem langjährigen Kreativdirektor des französischen Modehauses, Karl Lagerfeld, Tribut und führte gleichzeitig das „Chloé Girl“ wieder in die Mode ein, ein Sinnbild für den Bohème-Chic, das das Image der Marke unter Clare Waight Keller bestimmt hatte.
„Ich möchte das Gefühl zurückbringen, das ich hatte, als ich vor 20 Jahren zum ersten Mal hier durch die Türen trat und mich in den Geist der Chloé-Frau verliebte“, schrieb die in Deutschland geborene und am Central Saint Martins ausgebildete Designerin in ihren Show Notes. „Ich möchte ihre Präsenz wieder spüren: ihren Rhythmus, ihre natürliche Schönheit, ihr Gefühl von Freiheit. Sie ist echt. Sie ist sie selbst.“
Das „Chloé-Mädchen“ ist unter Kamali ein wenig gewachsen, wird vielleicht, wie sie sagte, zur Chloé-Frau, und dennoch sah man in ihrer Kollektion nicht nur die Rückkehr mehrerer Chloé-Musen, sowohl in der ersten Reihe als auch auf dem Laufsteg, sondern auch die typischen Merkmale des Vokabulars der Marke.
Fast jeder Look begann auf die eine oder andere Weise mit der Idee einer Bluse, die als Lieblingsstück der Firmengründerin Gaby Aghions galt. Romantische, nostalgische Blusen und durchsichtige Kleider mit Rüschen und Volants standen im Mittelpunkt der Kollektion von Kamali, gepaart mit hüftbetonten Hosen und kurzen Shorts und kniehohen Stiefeln. Um das Ganze abzurunden, brachte Kamali die „Paraty“-Tasche zurück, eine trapezförmige Umhängetasche mit goldenen Beschlägen, die erstmals 2008 unter der damaligen Kreativdirektorin Hannah MacGibbon vorgestellt wurde und Chloé in die Zeit der „It-Bags“ zurückversetzen wird.
Während Kamalis Debüt mit großem Beifall belohnt wurde, hatte ein anderer Debütant der Saison einen holprigen Start für seine kreativen Bemühungen bei einem renommierten Haus. Sean McGirr, der die komplizierte und undankbare Aufgabe hatte, als erster Designer ohne persönliche Verbindung zum Namensgeber die Nachfolge von Sarah Burton bei Alexander McQueen anzutreten, blickte zwar auf das Archiv der Marke zurück, wurde der Herausforderung aber noch nicht ganz gerecht. Die Anspielungen waren durchaus vorhanden: Spuren von McQueens Kollektion „The Birds“ aus dem Jahr 1995, komprimierte Silhouetten, bestimmte Schnittführungen, hauptsächlich bei der Herrenmode, waren scharf. Im Vergleich zu Burton brachte McGirr auch eine gewisse Schroffheit in die Marke zurück, die sich jedoch angesichts der sich wandelnden Zeiten und der Tatsache, dass die Marke, die einst darum kämpfte, über die Runden zu kommen, nun einem Luxuskonglomerat gehört, etwas plump, wenn nicht gar deplatziert anfühlte.
Das soll nicht heißen, dass in McGirrs Vision kein Potenzial steckt, vor allem, wenn sie mit der Zeit immer weiter verfeinert wird. In die Fußstapfen von Lee McQueen zu treten, ist kein leichtes Unterfangen, aber vielleicht sollte man sich daran erinnern, dass auch er, primär zu Beginn seiner Karriere, die Meinungen spaltete. Wenn die negativen Kritiken und der öffentliche Aufschrei ein Hinweis darauf sind, dass sich die Geschichte wiederholen wird, dann wird McGirrs zweite Kollektion den Neinsagern vielleicht beweisen, dass sie Unrecht hatten.
So wie man ein Buch nie nach seinem Einband beurteilen sollte, sollte die Branche inzwischen gelernt haben, Designer:innen nicht nach ihrer ersten Kollektion an der Spitze einer Marke zu beurteilen. Während Stefano Gallicis Debüt für Ann Demeulemeester in der letzten Saison nicht auf Kritik wie die von McGirr stieß, war es erst seine zweite Kollektion, die bewies, wie gut er die Codes des Hauses und die Frau, die es aufgebaut hat, versteht. Der junge Designer hat eine Formel gefunden, die funktioniert, und bezieht sich auf das Archiv, ohne es bis zum Überdruss zu wiederholen. In dieser Saison zeigte Gallici mehr von sich selbst und unterstrich damit deutlich seine tiefe Verbundenheit mit der Marke, für die er seit ihrer Eingliederung in die Antonioli-Gruppe im Jahr 2020 tätig ist, bisher als Designer für Herrenbekleidung.
Seine Herbst/Winter-Kollektion 2024 erkundete den schmalen Grat zwischen Rauheit und Zerbrechlichkeit. Er präsentierte Schichten von Chiffon, Georgette-Kleider und fließende Lingerie-Elemente und kontrastierte sie mit Biker-Jacken, strukturierten Schnitten und einem Hauch von Grunge-Romantik. Diese wurde durch widerspenstiges Haar und schwere Stiefel noch unterstrichen und vermittelten den Eindruck, dass die Ann-Demeulemeester-Frauen nicht zerbrechlich sind, auch wenn die Stoffe, die sie tragen, es sein könnten.
Mode sprengt das Internet
Wenn man von Designer:innen spricht, die ihre Formel gefunden haben, ist es fast unmöglich, Sébastien Meyer und Arnaud Vaillant von Coperni nicht zu erwähnen. Das Paar, das bereits zuvor Bella Hadid auf dem Laufsteg ein Kleid aufgesprüht hat, hat sich einen Namen als verrückte Wissenschaftler der Mode gemacht und diese Saison war keine Ausnahme, als sie eine neue Version ihrer bereits existierenden „Swipe Bag“ aus dem Nichts schufen – buchstäblich. Das Material des neuesten Modells, das leider der Kollektion die Show stahl, wurde von der NASA entliehen, um eine tragbare Tasche zu schaffen, die zu 99 Prozent aus Luft und nur zu einem Prozent aus Glas besteht.
Dieses ungewöhnliche Material wurde in den sozialen Medien sofort zum Hit – ein Phänomen, mit dem die Marke inzwischen bestens vertraut sein sollte. In dieser Saison war es jedoch nicht Coperni, die buchstäblich, wennschon nicht das Internet, so doch zumindest Instagram sprengte, sondern Miu Miu – und das aus gutem Grund.
Miu Miu, seit jeher die kleine Schwester von Prada, aber keineswegs weniger mächtig, vermischte in dieser Saison Kindheit und Erwachsensein, was zu einem skurrilen Kleidungsmix führte, der damenhafte Kleidung mit jugendlichen Experimenten verband. Cocktailkleider, extravagante Pelze, Perlen und schlichte Flügelärmel, Mary Janes und Wollstrümpfe trafen auf Mini-Säume, Jeans und Schuhe, die an Doc Martens erinnerten, aber damit war das Konzept noch nicht zu Ende. Das Casting reichte von bekannten Gesichtern, von Models wie Gigi Hadid und Vittoria Ceretti hin zu reiferen Frauen wie den Schauspielerinnen Kirstin Scott Thomas und Ángela Molina, was unterstreicht, dass Miu Miu letztlich nicht nur für Mädchen, sondern für Frauen ist, ganz wie Signora Prada selbst.
Während der etwa zweistündige Ausfall von Instagram, der dazu führte, dass die Nutzer:innen die von Meta betriebene Social-Media-Plattform nicht verwenden konnten, höchstwahrscheinlich nichts mit der Modewoche oder Miu Miu zu tun hatte, war eine Pause von der überwältigenden Menge an Inhalten nach rekordverdächtigen 108 Schauen in knapp zehn Tagen vielleicht genau das, was der Arzt am Ende eines umfangreichen Finales des Modemonats in den "Big Four" verordnet hatte.