Wie die Modebranche auf digital umstellt: Kleidung, Modenschauen und Produktion
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Wie viele andere Industrien sucht auch die Modebranche den digitalen Weg - und das schon seit Jahren. Doch in den letzten Monaten hat sich dieser Prozess beschleunigt, da der Ausbruch von Covid-19 eine beispiellose Unterbrechung der globalen Lieferketten verursachte. Der physische Einzelhandel wurde stark in Mitleidenschaft gezogen und die traditionlle Welt der Modenschauen als Überbleibsel einer vergangenen Ära müssen nun neu überdacht werden. In diesem Artikel wirft FashionUnited einen Blick auf einige Bestrebungen der Modeindustrie, sich zu digitalisieren - von Produkten, über Prozesse, bis hin zu Veranstaltungen und Unternehmen, die die Führung übernommen haben. Im ersten Teil dieser zweiteiligen Serie geht es um Produkte und Prozesse.
Kleidung selbst
Es wäre falsch über die Digitalisierung der Branche zu sprechen, ohne mit der Mode selbst anzufangen. Das heißt, die Digitalisierung der Kleidung, die im Grunde alle anderen Punkte ermöglicht, die wir in diesen beiden Artikeln behandeln werden. Einst ein weit hergeholtes Konzept, gewinnt die Idee der digitalen Mode - oder Mode, die nicht physisch existiert, sondern nur in digitalen Räumen zu sehen ist - in der Branche an Zugkraft. Eines der Unternehmen an vorderster Front dieser Bewegung ist das in Amsterdam ansässige digitale Modehaus The Fabricant.
Das Unternehmen nutzt visuelle Effekte wie Motion Capture, 3D-Animationssoftware und Bodyscanning, um hyperrealistische Animationen von Bekleidungsstücken zu erstellen, ohne sie jemals physisch zu produzieren. Und die Nachfrage nach dieser neuen Art von Mode wächst. Seit der Aufnahme seiner Tätigkeit im Jahr 2018 hat sich The Fabricant ein beeindruckendes Portfolio aufgebaut und arbeitet mit Größen der Branche wie dem US-Label Tommy Hilfiger und der deutschen Sportbekleidungsmarke Puma zusammen. Im Jahr 2018 verkaufte das Unternehmen sein erstes digitales Couture-Kleid, genannt Iridescence, bei einer Auktion in New York für 9.500 US-Dollar.
Lesen Sie hier unser Interview mit The Fabricant:
Der Gründer Kerry Murphy stellt sich eine Welt in nicht allzu ferner Zukunft vor, in der Menschen digitale Kleidung kaufen und mieten werden, die von Avataren ihrer selbst - oder 'digitalen Zwillingen' - getragen wird, die Online-Räume wie soziale Medien benutzen und mit anderen Menschen dort interagieren. "Es gibt eine riesige Chance, ausschließlich digitale Kleidung zu verkaufen, und das ist der Raum, auf den wir uns zubewegen", sagte Murphy gegenüber FashionUnited. "Wir glauben fest daran, dass digitale Mode in Zukunft kreativer und profitabler sein wird als physische Mode"
Design und Produktion
Kleidungsproduktion erfährt eine Abkehr von traditionellen manuellen Prozessen. 3D-Softwareprogramme wie Clo3D und Optitex ermöglichen es, Kleidung auf eine ressourcensparendere und nachhaltigere Weise zu entwerfen und so den Abfall und die Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, die traditionell beim Musterprozess entstehen. Im November 2019 kündigte der damalige CEO von Tommy Hilfiger, Daniel Grieder, etwas Radikales an: Ab Frühjahr 2022 sollen alle Kollektionen des Labels digital entworfen werden, und zwar unter Verwendung digitaler Stoffe, einer Muster- und Farbbibliothek, digitaler 3D-Präsentationswerkzeuge und Rendering-Technologie.
"Das Potenzial von 3D-Design ist grenzenlos und ermöglicht es uns, die Bedürfnisse der Verbraucher schneller und nachhaltiger zu erfüllen", sagte Grieder bei der Bekanntgabe der Pläne. "Die Technologie ist zu einem grundlegenden Werkzeug in unserem Kollektionsdesign geworden und hat das Potenzial, unsere Markteinführung erheblich zu beschleunigen und die traditionelle Produktfotografie vollständig zu ersetzen."
In den vergangenen Monaten haben Markenhersteller Bekleidungsaufträge im Wert von Milliarden von Dollar bei Produzenten storniert, und Fabriken auf der ganzen Welt waren gezwungen, zu schließen. Covid-19 hat Verwüstungen in der Lieferkette angerichtet, indem es bereits bestehende Schwächen innerhalb der Kette aufgedeckt hat, wie die Fragilität des Angebots- und Nachfragemodells. Doch bis sich der Staub, den die Krise aufgewirbelt hat, vielerorts wieder legt, haben Unternehmen die Möglichkeit, neue Lösungen für diese Probleme zu finden. Eine mögliche Lösung - und etwas, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat - ist die On-Demand-Mode.
Automatisierte Produktionszyklen auf Bestellung haben eine Reihe von Vorteilen gegenüber bestehenden Modellen. Erstens werden Überbestände abgebaut, da nur Kleidungsstücke produziert werden, die bereits gekauft wurden. Darüber hinaus ermöglichen sie einen rationelleren Zeitplan und bieten ein neues Maß an Personalisierung, so dass die Verbraucher die Kleidungsstücke vor dem Kauf individuell anpassen können.
Das in London ansässige Technologieunternehmen Unmade entwickelt eine On-Demand-Mode-Software, die es Marken ermöglicht, maßgeschneiderte Kleidungsstücke auf Bestellung anzubieten. Das Unternehmen hat mit Firmen wie New Balance und Christopher Raeburn zusammengearbeitet. CEO Hal Watts sagte in einer Podiumsdiskussion mit Fashion Revolution im April, dass während der Covid-19-Pandemie, als Fabriken zur Schließung gezwungen wurden, die Software des Unternehmens es bestehenden Kunden ermöglichte, schnell und einfach die Produktion zwischen den Fabriken zu wechseln. Er sagte auch, er habe ein erhöhtes Interesse von Unternehmen bemerkt, die ursprünglich geplant hatten, später mit Unmade zu arbeiten. "Ich glaube, sie sehen, dass ihre Lieferketten sehr brüchig sind, dass sie langsam sind und dass sie große Mengen an Lagerbeständen beinhalten", sagte Watts. "Etwas wie das Coronavirus macht diese Realität erst richtig deutlich. Es hat kein neues Problem geschaffen, es hat nur die Probleme, die es bereits gab, sichtbar gemacht."
Fashion Weeks und Laufstege
Modewochen waren schon immer eine sehr interpersonelle Angelegenheit - ein Theaterspektakel, bei Branchenprofis in die Modehauptstädte strömen, winzige Locations bis zum Rand vollgepackt, Schulter an Schulter sitzend, während die neuesten Trends präsentiert wurden. Auf einer Liste von Dingen, die man in der neuen sozial distanzierten Welt nicht tun sollte, rangieren solche Veranstaltungen ganz oben. Also musste sich die Branche natürlich anpassen.
In diesem Monat war die London Fashion Week (LFW) die erste der vier großen Modehauptstädte, die eine volldigitale Ausgabe präsentierte - ein dreitägiges Programm mit Filmen, Videodiskussionen und Workshops. Aber etwas fehlte noch. Traditionell das Kronjuwel jeder Modewoche, glänzten die Laufstegschauen größtenteils mit Abwesenheit. Im Hinblick auf Covid-19 war dies eine vernünftige Entscheidung, aber dennoch bedauernswert. Eine Marke jedoch fand Abhilfe. Der in Taiwan geborene Luxusmodedesigner Malan Breton präsentierte seine SS21-Kollektion, genannt "Immortal", in einer virtuellen Laufsteg-Show mit von CGI entworfenen 3D-Modellen.
Und Breton ist nicht der erste, der die Laufstegshow in den letzten Monaten überarbeitet hat. Bereits im April war die kongolesische Designerin Anifa Mvuemba bei Instagram, um die neueste Kollektion ihres zeitgenössischen Konfektionslabels Hanifa zu präsentieren. Die Marke kreierte ein Video mit fotorealistischen Digitalversionen von Kleidern aus ihrer Pink Label Congo-Kollektion, die sich auf unsichtbaren Modellen über einen Laufsteg bewegten und zeigten, wie sich die Kleidungsstücke auf einem realen Körper bewegen würden.
Mvuemba sagte gegenüber der Zeitschrift Teen Vogue, dass sie bereits vor der Pandemie 3D-Mockups verwendet hatte, um ihrem Team Ideen zu präsentieren, und dass sie plant, ihre Laufstegshows ausschließlich digital zu gestalten. Da die Zukunft der physischen Shows in Ungewissheit geraten ist, ist dies vielleicht der erste Blick auf das, was eines Tages die Norm sein könnte. Immerhin haben wir in den letzten Jahren bereits die zunehmende Präsenz von Avataren wie Lil Miquela gesehen - einer digitalen Gen-Z-Influencerin mit 2,4 Millionen Anhängern auf Instagram, die in Kampagnen von Calvin Klein, Prada und Givenchy die Hauptrolle gespielt hat.
Aber zurück zur Londoner Modewoche. Obwohl die Veranstaltung zweifellos weit weniger spektakulär und theatralisch war als die vergangenen internationalen Modewochen (man sah weder Chanel-Models, die eine hoch aufragende steinerne Jackenstatue umkreisten, noch Saint Laurent-Models, die auf dem Wasser vor dem Eiffelturm liefen), bot die kostenlose Online-Show zweifellos eine demokratischere Ausgabe der traditionell exklusiven Veranstaltung.
Ähnlich wurde die Shanghai Fashion Week (SHFW) im März digitalisiert und bot eine hochgradig interaktive Veranstaltung, die sich von ihrem traditionellen Publikum aus Industrie-Insidern weg und hin zu einem Verbraucherpublikum bewegte. Die Besucher sahen, wie Models über virtuelle Laufstege mit CGI-Hintergründen liefen, konnten den Designern in Echtzeit Fragen zu ihren Kollektionen stellen und, indem sie sich den wachsenden Trend des "See now, Buy now" zunutze machten, sehen, welche Artikel sofort zum Kauf verfügbar waren. Die SHFW brachte über 150 Designer und Marken zusammen, die ihre Kollektionen per Livestream präsentierten. Berichten zufolge zog sie 11 Millionen Zuschauer an und verkaufte Kleidung und Accessoires im Wert von 2,75 Millionen Dollar.
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Bewegen Sie die Maus über die Bilder und klicken Sie auf das runde gelbe Symbol mit dem "i" für weitere Informationen. Klicken Sie auf die Pfeile, um durch die Diashow zu navigieren. Bild: Screenshot Tmall Shanghai Fashion Week. Multimedia erstellt von Weixin Zha für FashionUnited
In Teil 2 dieses Artikels lesen Sie, wie sich die Branche in den Bereichen Online-Shopping, Messen und Ausbildung weiter digitalisiert.
Dieser Artikel wurde zuvor auf FashionUnited.uk veröffentlicht. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ
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Headerbild: The Fabricant x Puma