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Upcycling-Mode für alle, geht das?

Von Pia Schulz

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Mode |REPORTAGE

Made-to-Order-Denim. Bild: Avenir

Upcycling hat Konjunktur und trifft dabei den Puls der Zeit. Immer mehr Modelabels bringen Kollektionen auf den Markt, die aus ausrangierten und übrig gebliebenen Stoffen entstehen. Andere Brands gehen noch einen Schritt weiter und nutzen für ihr gesamtes Produktportfolio ausschließlich alte Textilien, die sonst im Müll gelandet wären. Auch in der Luxusmode ist Upcycling kein Fremdwort mehr: Die französische Designerin Marine Serre, die oft als Öko-Futuristin bezeichnet wird, steht seit ihrem Fashion-Week-Debüt 2018 für einen nachhaltigen und avantgardistischen Ansatz und setzt Upcycling erfolgreich im High-End-Bereich um. Aber inwieweit funktioniert das Businessmodell Upcycling für Modelabels und ist es in einem großen Rahmen umsetzbar?

Ein altbekanntes Konzept

Die Idee dahinter ist schon lange bekannt: Viele kennen die Geschichten von Großmüttern, die in Erinnerungen schwelgen und erzählen, wie sie vor vielen Jahren ihr Hochzeitskleid aus alten Tischdecken und Bettwäsche gezaubert haben, wie aus Opas Hemd noch ein neuer Rock entstand und wie aus anderen Stoffresten Kleidung für die Kleinsten der Familie genäht wurde. All das würde heute unter den Begriff Upcycling fallen, also die Weiternutzung von Abfallstoffen oder gebrauchter Ware, die in etwas Neues verwandelt wird.

Aus Alt mach Neu – genau dieser Ansatz wird derzeit dringender gebraucht denn je. Rund 7,5 Millionen Tonnen Textilmüll fallen pro Jahr in Europa an. Zu diesem Ergebnis kam die Studie „Skalierung des Textilrecyclings in Europa – Abfall in Werthaltiges verwandeln” von der Unternehmensberatung McKinsey & Company. Die Menschen in Europa produzieren demnach im Durchschnitt mehr als 15 Kilogramm Textilmüll jährlich, Tendenz steigend. Dieser Entwicklung wollen die Berliner Labels MOOT und Avenir entgegenwirken: Abfall in Werthaltiges verwandeln ist auch ihr übergeordnetes Ziel und so bieten sie ausschließlich Upcycling-Produkte an.

In Bettwäsche zur Arbeit

Im Berliner Ostbahnhof befindet sich der Concept Store der jungen Brand MOOT. Die Abkürzung steht für Made out of Trash, aus Müll gemacht – Upcycling steckt hier schon im Namen. Die Ladenfläche unterteilt sich in Store und Showroom, so wollen die MOOT-Gründer Michael Pfeifer und Nils Neubauer nicht nur ihre Produkte unter die diverse Kundschaft des Bahnhofsgebäudes bringen, sondern auch aufklären und informieren.

Im Eingangsbereich des Ladens türmen sich fünf große Textilballen aus Altkleidern, an der gegenüberliegenden Wand informiert ein meterhohes Schild über die „Umweltsünde Fast Fashion”. Nur wenige Schritte weiter zeigt der Umriss einer Deutschlandkarte die Standorte der Textilsortierungen, von denen das Label seine Rohmaterialien bezieht. Auf Kleiderstangen hängt ehemalige Bettwäsche nun in Form von T-Shirts, Longsleeves und Kleidern in unzähligen Mustern, alte Wolldecken erstrahlen als Mäntel und Jacken in neuem Glanz und Kissenbezüge vereinen sich mit Zurrgurten zu Beuteln.

Ein Turm aus Altkleiderballen. Bild: MOOT

Die Grundidee des Labels ist es, Upcycling mit tragbaren Produkten in den Alltag zu integrieren. „Unser Anspruch ist es, dass es künftig normal sein soll, dass Menschen mit einer Bettwäsche als T-Shirt und einer Wolldecke als Mantel auf den Straßen unterwegs sind und so Upcycling ein ganz normaler Teil der Gesellschaft und des Modekonsums wird”, sagt Mitbegründer Michael Pfeifer im Interview mit FashionUnited.

Zudem betont auch er, dass es Upcycling eigentlich schon immer gegeben hat. Nicht nur in der Form, wie es für frühere Generationen alltäglich war, sondern auch auf den internationalen Laufstegen: „Ganz überspitzt wurde dort aus einem Müllsack ein Kleid gemacht. Aber was ganz in der Mitte fehlt, ist ein Konzept, was sowohl tragbar als auch massentauglich ist”, sagt Pfeifer. Und genau dort will MOOT mit seinem Geschäftsmodell hin – in die Masse.

Ein Blick in den Showroom. Bild: MOOT

Und die Idee des Labels scheint aufzugehen. De Gründer starteten mit einer Kleiderstange voll T-Shirts im April 2020. Mittlerweile hat das Unternehmen mehr als zehn Produkte im Angebot und vertreibt seine Kleidung über verschiedene Kanäle. Die Rohmaterialien bezieht das Label vor allem von zwei großen Textilsortierungen, zum einen der Geo-tex Textilverwertung in Quakenbrück und Textrade in Bremerhaven. Kleinere Mengen kommen auch von der deutschen Kleiderstiftung und dem Berliner Textilhafen. Das Wachstum des Unternehmens und die Nachfrage nach den Produkten wird durch die rasch steigende Beschaffungsmenge an Textilien deutlich: aktuell verarbeiten vier Berliner Nähereien mehrere hundert Kilogramm Rohmaterialien zu MOOT-Produkten.

Tonnenweise Altkleider

In der Storkower Straße, knapp vier Kilometer vom MOOT-Store entfernt, verweist ein kleines blaues Schild an einer kahlen Fassade auf den Berliner Textilhafen, den Umschlagplatz für alle textilen Spenden der Berliner Stadtmission. „Die Wiege von MOOT liegt in der Berliner Stadtmission”, erzählt Pfeifer rückblickend. Dort haben die Gründer ein Sammelsurium aus gespendeten Textilien abgeholt, weiterverarbeitet und rumprobiert – heraus kam die Idee zum T-Shirt aus Bettwäsche.

Bereits um zehn Uhr morgens wird hier der erste Laster mit den Inhalten der Kleidercontainer entladen, während vier Mitarbeiter:innen noch die Spenden vom Vortag sortieren. Zwei große Hallen befinden sich unter dem Dach des Gebäudes, eine bis zum Rand gefüllt mit unsortierten Altkleidern, in der anderen stehen lange Sortiertische, daneben reihen sich unzählige Lagerboxen aneinander. In den Kältemonaten kommen hier pro Woche bis zu 20 Tonnen gespendete Kleidung aus den 13 Kleidercontainern der Stadtmission an, erklärt Leiterin Annett Kaplow im FashionUnited-Interview. „80 Prozent der gespendeten Kleidung kommen zwangsweise in den Müll oder die Altkleiderverwertung”, so Kaplow, „Viele Spenden weisen nicht die Qualität auf, die wir uns für die Menschen in der Kleiderkammer wünschen. Sie ist verdreckt oder zerschlissen. Oftmals sind auch Bettdecken, Kopfkissen dabei, die wir nicht weitergeben können”. Neben verschmutzter Kleidung wandert hier auch viel Fast-Fashion aufgrund der schlechten Stoffqualität direkt in den Müll.

Der Materialpool des Berliner Textilhafens in der Storkower Straße. Bild: Julia Lüccecke

Lediglich 20 Prozent der Spenden sind nutzbar. Mit zehn Prozent geht der Großteil davon in die Kleiderkammer, in der sich Wohnungslose und bedürftige Menschen einkleiden können. Neun Prozent finden ihren Weg in die Kiezläden, in denen überschüssige Spenden, die für die Menschen in der Kleiderkammer ungeeignet sind, als Secondhand-Ware weiterverkauft werden.

„Alles, was weder in der Kleiderkammer noch in den Läden unterkommt, versuchen wir im Materialpool zu verkaufen", so Kaplow. Rund ein Prozent der Spenden landen in dem für Upcycling konzipierten Materialpool. „Hier finden sich viele Textilien mit Makeln, die repariert und wiederverwertet werden sollen”. Der Ursprung des Materialpools liegt im Überangebot mancher Textilien wie Jeans, die in der Masse nicht alle gespendet oder verkauft werden können und sonst auch im Müll landen würden.

Zweimal die Woche ist der Materialpool für einen allgemeinen Verkauf geöffnet, der von vielen Studierenden, Theaterschaffenden und Hobby-Näher:innen genutzt wird. Doch nicht nur Privatleute greifen auf das weitreichende Angebot an Textilien, das von Cord über Denim bis hin zu Wolle und Meterware reicht, zurück. Auch viele Upcycling-Labels beziehen ihre Materialien vom Textilhafen. Durch Sortieraufträge können Brands angeben, welche Stoffe sie suchen. „Für uns und die Designer:innen sind die Textilen eine wichtige Ressource. Der Sortierauftrag ist eine Bestellmöglichkeit bei uns Material, welches wir vorsortieren, im größeren Stil zu bestellen.”, erklärt Kaplow.

Mehrweg- statt Einwegware

Die Wurzeln der Berliner Brand Avenir liegen ebenfalls im Textilhafen: Gründerin und Designerin Sophie Claussen arbeitete als Helferin beim Materialpool. Die Idee zu ihrer Modemarke entstand aus der enormen Masse an textilem Abfall. Über einen Sortierauftrag bezieht das Upcycling-Label noch heute einen Großteil seiner Materialien beim Textilhafen. Nach Bedarf holt Claussen bis zu 15 kg Jeans ab – am liebsten Herrengrößen mit weniger als zwei Prozent Elasthan im Stoffanteil.

Upcycling-Lager. Bild: Avenir

Avenir bezieht seine Rohmaterialien aber nicht nur von der Textilsortierung, sondern gliedert auch Restpostenstoffe von Produktionsstätten in Portugal mit in den Herstellungsprozess ein. So können Materialien, die von anderen Marken und Herstellern in der Produktion übrig geblieben sind, direkt weiterverarbeitet werden. „Das ist nicht nur für uns cool, weil wir den Stoff wiederverwerten können, es ist auch für die anderen Hersteller gut, denn sie bekommen so ihre Warenlager leer”, ergänzt Claussen.

Bisher hat sich das Label vor allem auf Made-to-Order-Produkte aus Denim fokussiert. Die Bestellungen werden im Atelier im Berliner Stadtteil Neukölln handgefertigt und einige Modelle werden ergänzend dazu in kleinen Serien in Portugal produziert. In Zukunft könnte sich das ganze Konzept des Labels etwas umstellen und die Produktion in Portugal ausgeweitet werden. „Man muss sich überlegen, was ein sinnvoller nächster Schritt ist, um Upcycling so anbieten zu können, dass es sowohl exklusive lokal produzierte Upcycling-Pieces, als auch etwas bezahlbarere Upcycling-Kleinserie-Kollektionen gibt”, so Claussen.

Preisfrage und Behavior-Gap

Sowohl Avenir als auch MOOT zeigen, dass verschiedene Konzepte von Upcycling möglich, umsetzbar und auch gefragt sind. Beide Labels wollen durch ihre Arbeit die Lebensdauer von Textilien verlängern und so dem verschwenderischen Überkonsum der Zeit entgegenwirken. Damit Upcycling wirklich funktioniert, ist aber nicht nur das Geschäftsmodell der Marken von Bedeutung, vielmehr müssen Konsument:innen ihren Bedarf und die Art und Weise ihres Konsums überdenken.

„Wir sehen einen großen Behavior-Gap: Alle sagen, dass sie total nachhaltig sind und sich für nachhaltige Kleidung und Konzepte interessieren, aber wenn es dann zu den täglichen Entscheidungen kommt, verhalten sich viele meist anders”, so Pfeifer. Upcycling-Mode kann seiner Meinung nach nie über den Preis alleine konkurrieren, „das ist ein aufwendig, handwerklich hergestelltes Konsumgut und auch dafür wollen wir die Leute sensibilisieren. Dass sie auch erkennen, welchen Wert Kleidung eigentlich hat.” Auch Claussen teilt diese Ansicht: „Es ist tatsächlich so absurd, dass alle Leute etwas Nachhaltiges wollen, aber wenn es dann um den Preis geht, haben sie keine Lust zu zahlen.”

Deutlich wird, dass das Konzept funktioniert und Upcycling-Labels ihre Produkte aus Altkleidern in einem größeren und vor allem wachsenden Maßstab in die Mitte der Bevölkerung bringen können. Dafür ist aber vor allem ein weiterer Punkt notwendig – das Engagement der Konsument:innen.

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