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Warum ist es so schwer, existenzsichernde Löhne einzuführen?

Von Pia Schulz

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Mode

Arbeiterin in der Textilfabrik 'Evolution' in Vietnam Bild: Dawn Denim

In Deutschland fordert die Gewerkschaft Verdi im Einzelhandel ein Mindestlohn von 13,50 Euro pro Stunde – Zahlen, von denen Arbeiter:innen im globalen Süden nur träumen können. Warum ist es so schwierig, existenzsichernde Löhne in der Textilindustrie einzuführen und wie könnte das gelingen?

Marian von Rappard besitzt die Textilfabrik ‘Evolution’ in Vietnam, in der er auch für sein eigenes Jeanslabel Dawn Denim produziert. Dort bezahlt er all seinen Mitarbeiter:innen existenzsichernde Löhne. Von Rappard versucht in der Modebranche, wie zuletzt auf der Fashion Changers Konferenz 2023 dafür zu werben, gemeinsam langfristige Veränderungen zu bewirken.

Marian von Rappard startete seinen Weg in der Modewelt 2009, als er sich in Vietnam selbstständig gemacht hat. Seine ursprüngliche Idee, mit einer Handelsagentur zwischen Brands und Fabriken zu vermitteln, ging schnell in die Gründung eines Muster-Ateliers über. Dort hat er mit seinem Team Kollektionen mit einer geringen Produktionsmenge entworfen und selbst hergestellt – aus diesem Atelier ist seine heutige Fabrik entstanden. 2015 gründete er dann zusammen mit der Designerin Ines Rust das nachhaltige Jeanslabel Dawn Denim. Alle Produkte der Brand werden in der Fabrik in Saigon hergestellt.

Marian von Rappard, Gründer von Evolution und Dawn Denim Bild: Dawn Denim

„In unserer Factory etablieren wir neue Standards für Fairness und Umweltbewusstsein,” heißt es auf der Website von Dawn Denim: „Die Verantwortung für ein faires und gut bezahltes Arbeitsumfeld tragen wir. Wir haben uns von Beginn an dazu entschlossen, unser Team in Vietnam nach der Anker Living Wage Methode zu bezahlen, um Existenzen zu sichern und das Verwirklichen von Träumen zu ermöglichen.” Mit Tip Me können Kund:innen zusätzlich ein Trinkgeld zu den Arbeiter:innen in Vietnam schicken.

Um die Lieferkette möglichst transparent darzustellen, zeigt Dawn Denim auf den Produktseiten im Onlineshop die einzelnen Schritte des Herstellungsprozesses der Produkte auf. In Zusammenarbeit mit dem Softwareunternehmen Retraced können die Kund:innen die ‘Reise des Produkts’ von Stoffverarbeitung bis Herstellung einsehen.

Seit Jahren ist die Debatte um Lohngerechtigkeit in der Textilindustrie allgegenwärtig, doch scheint sich nicht wirklich etwas zu bewegen. Die Dringlichkeit für Veränderungen zeigte sich in den verheerenden Ausmaßen der Lohnproteste in Bangladesh im Okober letzten Jahres, wo eine Textilarbeiterin bei der Demonstration für höhere Gehälter lebensgefährlich verletzt worden ist und anschließend ihren Verletzungen erlag. Faire Löhne – ein Thema, das Menschenleben kostet und für langfristige Verbesserungen vor allem eins braucht: Mehr Handlungsbereitschaft von Marken, die in Ländern wie Bangladesch und Vietnam produzieren. Noch fehlt es vor allem an Investitions- und Risikobereitschaft sowie der Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten

„Um existenzsichernde Löhne auf Fabrikebene zu erreichen, müssen Bekleidungsmarken und Einzelhändler:innen bereit sein, ihre Beziehungen zu den Lieferant:innen als Partnerschaft zu sehen”, kommentiert die Global Living Wage Coalition auf Nachfrage von FashionUnited. Letztlich müssen sie bereit sein, mehr für ihre Produkte zu bezahlen, um das gemeinsame Ziel einer gerechten Entlohnung der Arbeitnehmenden zu erreichen”.

Textilfabrik Evolution in Saigon, Vietnam Credits: Dawn Denim

Der Mindestlohn legt als gesetzliche Lohnuntergrenze das Minimum fest, welches Arbeitgeber:innen ihren Beschäftigten zahlen müssen, um deren Grundbedürfnisse zu gewährleisten. „Idealerweise sollte der Mindestlohn das Ergebnis einer dreiseitigen Diskussion zwischen Vertreter:innen der Regierung, der Arbeitgebenden und der Arbeitnehmenden sein”, so die Global Living Wage Coalition. Oftmals handelt es sich aber um eine Entscheidung der Regierung, die ohne Einbezug der Arbeiter:innen getroffen wird.

Laut dem Bündnis für nachhaltige Textilien reicht diese Lohngrenze in den Produktionsländern der Textilindustrie oftmals nicht für einen angemessenen Lebensstandard. Genau hier greift der existenzsichernde Lohn:

Existenzsichernde Löhne:

  • Die Global Living Wage Coalition definiert den existenzsichernden Lohn als „eine Vergütung [...], die eine arbeitende Person an einem bestimmten Ort für eine normale Arbeitswoche erhält und die ausreicht, um einen angemessenen Lebensstandard für diese Person und seine Angehörigen zu gewährleisten. Zu einem angemessenen Lebensstandard gehören Nahrung, Wasser, Unterkunft, Bildung, medizinische Versorgung, Transport, Bekleidung und andere Grundbedürfnisse, einschließlich Vorkehrungen für unerwartete Ereignisse.”

Zur Erinnerung: Seit Januar 2024 liegt der Mindestlohn in Deutschland bei 12,41 Euro pro Stunde. In Vietnam bewegt sich der Mindestlohn je nach Region zwischen 15.600 und 22.500 Vietnamesischen Dong pro Stunde, was umgerechnet 58 bis 84 Cent entspricht.

Die internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit Sitz in der Schweiz schätzt, dass weltweit 266 Millionen Arbeitnehmende unter dem Mindestlohn bezahlt werden, was 15 Prozent aller Beschäftigten entspricht. Mindestlöhne werden zudem häufig nicht an sich verändernde wirtschaftliche Umstände wie Inflation angepasst, was zu Lohneinbußen führt.

Wer definiert ein ‘angemessenes Leben’?

Das für den existenzsichernden Lohn zugrunde liegende Existenzminimum ist sehr länderspezifisch und kann mit verschiedenen Methoden berechnet werden. Von Rappard nutzt in seiner Fabrik die Anker-Methode, die von den US-Amerikaner:innen Martha und Richard Anker entwickelt wurde.

Der Lohn setzt sich nach dieser Methode in einem „Warenkorb-System” zusammen, so von Rappard. Kosten für eine ‘ausgewogene Ernährung’, ‘angemessene Wohnverhältnisse’, ‘unvorhersehbare Ereignisse’ und ‘andere Bedürfnisse’ wie Kleidung, Bildung und Gesundheitsvorsorge werden addiert und bilden die Lebenshaltungskosten, für ein einfaches, aber angemessenes Leben.

Anker Research Institute (ARI) and Global Living Wage Coalition (GLWC), based on Anker, R. and Anker, M. (2017). Bild: Living Wages Around the World: Manual for Measurement, Cheltenham, UK and Northampton, USA: Edward Elgar Publishing.

Hierbei gibt es Besonderheiten, wodurch sich der existenzsichernde Lohn von der Berechnung des Mindestlohns abhebt. So werden beispielsweise für die Ermittlung der Nahrungskosten Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herangezogen und mit lokalen Daten kombiniert. Hierfür werden regelmäßig die länderspezifischen Lebensmittelpreise unter Einbeziehung der Arbeiter:innen erhoben und analysiert. Auch bei den Wohnkosten werden lokale Daten mit eingebunden, die durch Wohnungsbesichtigungen mit Arbeitnehmenden ermittelt werden.

Nach den Berechnungen der Anker-Methode müsste von Rappard den Angestellten in seiner Fabrik einen Monatslohn zahlen, der sich zwischen 8,8 und 9,2 Millionen Vietnamesischen Dong (rund 325,15 bis 340,56 Euro) bewegt. Die Arbeiter:innen in seiner Textilfabrik bekommen einen Lohn, der sich mit 8,5 bis 11 Millionen Vietnamesischen Dong (rund 314,39 bis 406,85 Euro) im Schnitt über dem berechneten Betrag bewegt. Zusätzlich erhalten alle Mitarbeitenden eine private Krankenversicherung.

„Ein weiteres Schlüsselelement ist die Verfügbarkeit von Dienstleistungen und Infrastruktur, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen”, so die Global Living Wage Coalition. Einer Untersuchung des Anker Research Institute zufolge ist der existenzsichernde Lohn niedriger, wenn auch die Kosten für Elemente eines angemessenen Lebens, wie Wohnung, Transport, Schulbildung und medizinische Versorgung niedriger sind. In Ländern, „wo die Regierungen grundlegende Güter subventionieren oder qualitativ hochwertige öffentliche Dienstleistungen anbieten, ist der existenzsichernde Lohn niedriger und leichter zu erreichen als in vergleichbaren Gebieten, die nicht über dasselbe Maß an staatlicher Unterstützung verfügen.”

Woran es hakt

„Die Regierungen spielen eine große Rolle, wenn es darum geht, sicherzustellen, dass sich die Menschen eine angemessene Lebensqualität leisten können”, erklärt die Global Living Wage Coalition. Ihre Aufgabe besteht darin, für die Bedürfnisse der Gesellschaft zu sorgen. Darüber hinaus liegt es in der Verantwortung der Arbeitgeber:innen und Abnehmer:innen, die Rechte der Arbeitnehmenden – insbesondere ihr Recht auf faire Entlohnung – zu respektieren.

Im letzten Jahr wurden in seiner Fabrik rund 600.000 Kleidungsstücke produziert, so von Rappard gegenüber FashionUnited. Davon sind nur zehn Prozent für sein eigenes Label, die restlichen 90 Prozent werden von anderen Marken beauftragt. „Dawn muss wachsen, damit unsere eigene Produktion mehr Relevanz in der Fabrik hat, um dann auch höhere Preise zahlen zu können”, erklärt er. Zukünftig soll die Hälfte der Produktionsstätte mit der Herstellung von Dawn-Produkten ausgelastet werden. Hat die Marke mehr Relevanz, ist auch eine neue Aushandlung von Löhnen und Preisen möglich.

Ein großes Problem liegt laut von Rappard in der saisonalen Produktion, da so viele Fabriken nur zu kleinen Prozentsätzen von vielen verschiedenen Brands ausgelastet werden, wodurch der Einfluss der einzelnen Brands verloren geht. Daher müsste eine Marke ein großes Produktions-Kontingent einnehmen – oder alle Labels, die in der Fabrik produzieren lassen, müssten bereit sein, höhere Löhne und damit höhere Preise für ihre Produkte zu zahlen.

#WhoMadeMyClothes-Kampagne von FashionRevolution Credits: Dawn Denim

Partnerschaftliche Zusammenarbeit und die Bereitschaft, mehr zu zahlen, wünscht sich von Rappard von seinen Branchenkolleg:innen. Wenn sich Marken zusammenschließen würden, um 80 bis 90 Prozent der Produktionsstätten auszulasten, könnten Preise neu verhandelt werden. Doch diese Kollaborationsbereitschaft ist genau das, was der Branche fehlt, so der Fabrikbesitzer. Außerdem sind diese Vorhaben aus wirtschaftlicher Perspektive sehr risikobehaftet und damit oftmals unattraktiv für Unternehmen, was durch staatliche Regularien oft noch verstärkt wird.

Die Zukunft: Asian Floor Wage

Die Asia Floor Wage Alliance ist eine 2017 gegründete Arbeits- und Sozial-Allianz, die sich für die Verbesserung der Löhne, gegen Geschlechterdiskriminierung und für die Regulierung der Lieferketten in Produktionsländern der Bekleidungsindustrie einsetzt.

Die Organisation entwickelte ebenfalls eine Methode zur Berechnung existenzsichernder Löhne für Textilarbeiter:innen. Dabei stützt sie sich auf drei Grundannahmen: Erwachsene Arbeiter:innen benötigen täglich 3.000 Kalorien und müssen in der Lage sein, sich selbst und zwei weitere sogenannte ‘Verbrauchseinheiten’ ernähren zu können. Zudem bemisst sich das Verhältnis der Lebensmittelkosten zu ‘Non-Food’-Ausgaben auf 45:55. Der Lohn nach dieser Methode wird für eine Arbeitswoche von maximal 48 Stunden verdient und ist nochmal höher als der Lohn nach der Anker-Methode.

Die Zahlung eines Asian Floor Wage ist auch das langfristige Ziel von von Rappard, zur Zeit kann der Gründer diese Summen finanziell noch nicht stemmen – genau hier setzt sein ‘Call for Calloboration’ von der Fashion Changers Konferenz an. Um seinen über 300 Mitarbeiter:innen in der Fabrik in Saigon einen Lohn nach den Berechnungen des Asian Floor Wage zahlen zu können, müssen auch andere Brands die Bereitschaft haben, höhere Preise zu zahlen.

Die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Fabrik und Einkäufer:innen hebt auch die Global Living Wage Coalition hervor: „nur so lassen sich Löhne wirklich sinnvoll erhöhen”.

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