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Wie Disruptionen die Mode verändern

Von Barbara Russ

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Mode |HINTERGRUND

Gesellschaftliche Einschnitte haben schon immer die Kleidung der Menschen geprägt – nicht nur wie sie getragen, sondern auch wie sie hergestellt und verkauft wurde. Gibt es etwas, was uns die Umwälzungen der Vergangenheit für die Gegenwart verraten?

Die Disruption wurde oft beschworen. Sie ist Business-Mantra und Lieblingsbuzzword von Keynote Speakern, Zukunftsforschern und rebellischen Designern. Sie ist der Bruch mit dem Althergebrachten, die Sollbruchstelle in einem Prozess oder gar einer Gesellschaft. Dabei ist Disruption keine neue Erfindung. Zu jeder Zeit gab es immer wieder Ereignisse oder Erfindungen, die alles folgende nachhaltig prägten. Was können wir aus vergangenen Disruptionen lernen? Wo stecken Potentiale und was sind die Fallstricke?

Wenn wir von Disruptionen sprechen, werden häufig technische Beispiele herangezogen. Smartphones wie das iPhone und Video-Streaming-Dienste wie Netflix werden ihren unterlegenen Vorgängern wie einem Nokia 3210 oder einem Blockbuster Videoverleih gegenübergestellt. Die Betrachtung und Formulierung solcher disruptiven Innovationen stammen aus der Feder des kürzlich verstorbenen Harvard Professors Clayton M. Christensen. Er beschrieb in seinem Bestseller The Innovator’s Dilemma Innovationen, die etablierte Produkte oder Dienstleistungen unerwartet ersetzen, vom Markt verdrängen oder obsolet machen und einen neuen Markt oder neue Werte schaffen.

Im allgemeinem Sprachgebrauch ist die Unterscheidung zwischen Innovation und Disruption aber nicht immer ganz klar. Im gesellschaftlichen und politischen Kontext beschreibt Disruption gesellschaftsverändernde Momente in ihrer extremsten Ausprägung. In diesen Zeiten ist Wandel nicht nur leichter denk- sondern auch umsetzbar, weil Prozesse sowie Gewohnheiten unterbrochen werden und sich neue Potentiale eröffnen.

Erfindungen führen zu Disruption

In der Bekleidungsindustrie wird häufig das Beispiele des industriellen Webstuhls und der Nähmaschine herangezogen. Tatsächlich sind sie exemplarisch die Innovationen, für die größten gesellschaftlichen Disruptionen der letzten zweihundert Jahre stehen. Durch sie wurde es möglich, mehr Kleidung schneller herzustellen. Sie gestatteten ebenso eine prozessuale Anpassung. Während vor der Industriellen Revolution Weber*innen und Näher*innen Materialien einkauften, verarbeiteten und ihr Produkt daraufhin weiterverkauften, wurden diese Arbeitsschritte nun in Fabriken zusammengefasst. Die Tätigkeit wurde automatisiert und Zwischenhändler reduziert. Handwerker *innen konnten mit der Effizienzsteigerung nicht mithalten und heuerten in den Fabriken an. Die Arbeiterklasse war geboren.

Die Umwälzung vollzog sich auch im Handel. Wo vorindustriell noch Kurzwarenläden gebraucht wurden, weil Frauen sich ihre Kleider selbst nähten oder diese beim Schneider fertigen ließen, kam nun das Kaufhaus. Hier wurden nun ganze Kleidungsstücke von der Stange von Verkäufer*innen angeboten. Das Stadtbild änderte sich. Arbeiter- sowie Villenviertel entstanden und große Boulevards wie Kaufhäuser prägen bis heute das Stadtbild europäischer Metropolen – ein Umstand, der auch in dieser jüngsten Disruption weitergedacht werden muss.

Disruptionen bringen Innovationen

Die größten Disruptionen stellen für Gesellschaften sicherlich verheerende Naturereignisse oder Kriege dar. So zwang der Zweite Weltkrieg Millionen Arbeiter aus den Betrieben an die Front und Frauen an ihrer statt in die Fabrik. Natürlich änderte das nicht nur das Selbstverständnis und die Rolle der Frau, sondern auch ihre Kleidung nachhaltig. Auch wenn Frauen nach dem zweiten Weltkrieg wieder in ihre Hausfrauenrollen gedrängt wurden, hatten sie eine alles verändernde Erfahrung gemacht. Hosen, die Frauen in den Fabriken getragen hatten, waren zwar mach dem Krieg wieder verpönt, aber nicht mehr undenkbar. Auch wenn man im zerstörten Europa sich wieder nach besseren Zeiten sehnte und mit Diors New Look eine elegante Dame propagierte, war gemeinhin das stilistische Bild der Frau aufgebrochen.

Allgemein entstammen viele Innovationen aus kriegerischen oder zumindest militärischen Disruptionen. Dass Konfektion möglich wurde, entstand aus der Vermessung von Soldaten. Durch das massenhafte Maßnehmen wurde es möglich, standardisierte Größen zu entwickeln. Die führten wiederum dazu, dass man erst HAKA und schließlich DOB-Konfektionskleidung entwickeln konnte. Materialinnovationen wurden oft für militärische Zwecke vorangetrieben und fanden dann ihren Weg in die Alltagsbekleidung. Und auch die gesellschaftlich einschneidendste Technologie seit der Erfindung des Buchdrucks, fand einige ihrer ersten Anwendungen in diesem Kontext: das Internet. Die Mode wurde vom Internet in allen Bereichen verändert. Fertigung, Produktion, Handel, nichts blieb von dieser Disruption unberührt.

Chance: Disruption durch das Coronavirus

Alles verändernde Disruptionen wurden in den letzten Jahren viel herbeigeredet. Angedacht für diese Rolle waren der aufkommende Resale-Markt, verschiedene Nachhaltigkeitsbewegungen sowie die steigende Transparenznachfrage in der Produktions- & Lieferkette. Doch waren dies letztendlich alles natürliche Branchenentwicklungen, die einer Nachfrage folgten. Jetzt ist wirklich eine Disruption da. Das Coronavirus, das uns alle in unseren täglichen Routinen, wenn nicht erschüttert, dann doch zumindest unterbrochen hat. Aber was verändert sich konkret?

Die allgemeine wirtschaftlich angespannte Situation führt klassischerweise gerade in der Bekleidungsbranche zuerst zu Umsatzeinbrüchen. Selbst der Onlinehandel, der durch Kontaktsperren und das geschlossene stationäre Geschäft eigentlich hätte profitieren können, schwächelt. Dennoch: Corona hat den Wechsel vom Stationär- hin zum Online-Geschäft noch einmal beschleunigt. Online einkaufen ist bequem und einfach. Damit ein Kunde einen Fuß in einen Laden setzt, benötigt er also gute Anreize. Diese gilt es zu setzen und einer Gesellschaft nach einer Krise positive Erlebnisse zu geben.

Im Handel zeigt sich, dass Disruptionen überlebt werden können, wenn man rechtzeitig reagiert: Spezialisierung, Emotionalisierung und Community-Building können helfen. Auch heute noch gibt es Kurzwarenläden, wie vor der Industrialisierung, aber sie haben sich auf Hobbyschneider und Modestudenten spezialisiert. Einige Shoppingcenter haben das Mall-Sterben der letzten Jahrzehnte überlebt, weil sie zum Teil die gesellschaftliche Rolle als lokaler Treffpunkt und Community-Builder einnehmen. Und auch einige Versandhändler florieren heute noch, weil sie ihrem Kundenstamm immer neue Anreize geben. Die Anzahl der Kaufhäuser wird wohl schrumpfen, aber einige, die Kunden immer wieder neue und besondere Erlebnisse bieten können, bleiben erhalten. Das hat sich durch das Coronavirus nicht verändert, nur beschleunigt und verstärkt. Eine One-Size-fits-all-Lösung gibt es nicht. Es muss experimentiert, radikal gedacht und bis an die Grundfeste des eigenen Geschäftsmodels sowie der Marke herangegangen werden.

Gerade in Zeiten von Corona scheint vieles, was zuvor als unmöglich galt, möglich. Eine veränderte Saison-Taktung , ein Umsteigen auf effizientere globale Just-in-Time-Produktion, Herstellung vor Ort, Ausbau von IT-Infrastrukturen, Homeoffice für die Angestellten, digitale Fashion Weeks und Showrooms. Und auch ein neues Wir-Gefühl, das eine erneute Debatte über Verantwortung in der Lieferkette befeuern wird. Nach, oder besser, bereits jetzt während der Corona-Krise bleibt Marken, Produzenten und Händlern kaum eine andere Wahl, als ihr Business as Usual bis auf den Grund zu überdenken.

Bild: 1. Engin Akyurt on Unsplash 2. Edwin Hooper on Unsplash

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