Wie verwandelt Hugo Boss sein größtes Werk in eine Smart Factory?
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Wie Künstliche Intelligenz und Tablets in der größten europäischen Fabrik von Hugo Boss eingesetzt werden, beeindruckt. Aber es sind vor allem die neuen Formen der Interaktion zwischen Mensch und Maschine, die überraschen und zum Nachdenken anregen.
"Das Interessante an der Technologie ist, dass sie uns wieder menschlich macht", sagte Joachim Hensch, Managing Director der Hugo Boss Textile Industries Ltd. Er leitet das Werk in Izmir, einer der vier eigenen Produktionsstätten von Hugo Boss in Europa. Von diesen ist Izmir mit Abstand die größte mit rund 4000 Mitarbeitern.
Das Werk steht auch inmitten einer sich verändernden Modelandschaft, in der die Fertigung flexibler auf die Nachfrage der Verbraucher reagieren muss. Joachim Hensch erzählt gerne darüber, wie er seine Karriere als Maßschneider für einzelne Kunden begann und schnell lernte, dass die Modeindustrie anders als in seiner Vorstellung funktionierte. Das Zeitalter der massenproduzierten Bekleidung in den 90er bis frühen 2000er Jahren war geprägt von Konsumenten, die Modemarken bloß folgten. Das Aufkommen neuer Technologien wie Soziale Medien kehrt dieses Konzept jedoch zusehends um. Kunden können direkt über Instagram oder Twitter mit Marken in Kontakt treten.
"Ich möchte immer noch an der Markenstory teilhaben, aber ich möchte als einzelner Kunde wahrgenommen werden. Damit ändert sich das gesamte Konzept der Produktion, das gesamte Konzept, wie wir Tends folgen", erklärte Hensch während seines Vortrags auf der Innovate Textile & Apparel Conference in Amsterdam.
Allein günstiger zu produzieren, reicht nicht mehr aus
Die derzeitige Beschaffungspraxis, stets günstigere Lieferanten zu finden, um die Gewinnmargen zu erhöhen, könnte bald nicht mehr funktionieren. Hensch erwartet, dass die Nachfrage nach handgearbeiteter, maßgefertigter Kleidung steigen wird, während die Massenproduktion von Kleidung schneller und flexibler werden muss. Die Komplexität der Produktion wird dadurch zunehmen, aber Technologie kann dabei helfen, die Zeit- und Qualitätsprobleme zu bewältigen.
"Ich erwarte nicht, dass es nur noch ‘Lights-Out’ Fabriken geben wird, in denen alles automatisiert wird, aber es wird diese beiden Welten geben", sagte er.
Die Bekleidungsindustrie ist nach wie vor auf manuelles Nähen angewiesen – ein Prozess, der bisher nicht automatisiert wurde, da Marken oft große Teile der Produktion auslagern und sich auf externe Niedriglohnarbeit anstelle neuer Technologie verlassen. Die 65.000 Quadratmeter große Fabrik von Hugo Boss in Izmir verzichtet nicht auf das manuelle Nähen, aber sie überdenkt das künftige Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine.
Die Fabrik produziert laut Unternehmenswebsite jährlich bis zu 900.000 Anzüge, zwei Millionen Hemden und 550.000 Kleidungsstücke für Frauen. Gleichzeitig habe das Werk damit begonnen, Aufträge für Einzelstücke an Pilot-Läden in Asien auszuliefern, sagte Hensch.
"In Izmir werden wir zu einer Plattform für Produkte, Dienstleistungen und Wissen; zu einem Marktplatz für das, was gebraucht wird. Es wird sehr unterschiedlich sein im Layout, wie wir Prozesse managen und wie wir Menschen trainieren."
Eine intelligente Fabrik mit virtuellen Lern-Geräten
Eine flexible Organisation braucht flache Hierarchien, in denen Manager und Mitarbeiter das Denken in Abteilungen aufgeben. Stattdessen denken sie in Aufgaben, sagte Hensch. Die neue Form, wie die Fertigung in Izmir organisiert wird, verdeutlicht seine Ideen wohl am besten.
Während Fabrikarbeiter in der Regel einen Tag oder wochenlang einen einzigen Arbeitsschritt ausführen, wechseln die Mitarbeiter in Izmir zwischen mehreren Aufgaben an verschiedenen Kleidungsstücken wie Anzügen, Kleidern, Hosen und Hemden. Zwischen den Schichten reinigen sie ihre Arbeitsplätze und stecken Maschinen aus, bevor sie zu ihrem nächsten Arbeitsschritt übergehen. Kurz nach der Einführung der neuen Arbeitsweise dauerte der Umbau noch 40 Minuten, jetzt sind nur noch um fünf bis zehn. Die flexiblen Schichten ermöglichen eine schnellere Anpassung an die schwankende Nachfrage für die zahlreichen Produktgruppen, die im Werk hergestellt werden.
Doch der schnellere Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben könnte zugleich auch mehr Fehler auslösen. Hugo Boss versucht das Problem zu vermeiden, indem das Unternehmen Daten über die 3500 Maschinen und 4000 Mitarbeitern in seinem Werk sammelt. In der Fertigungshalle wurden 1600 Tablets verteilt, über die Fehler sofort an den Kollegen gemeldet werden können, der ihn beim vorherigen Arbeitsschritt begangen hat. Das reduziert die Anzahl der Fehler. Wenn sie auf ihren Fehler aufmerksam werden, können die Angestellten, den Arbeitsschritt auch mit Hilfe eines Mixed-Reality-Spiels üben, das für eigens die Fabrik entwickelt wurde.
Über 1000 Arbeitsschritte wurden mit Hilfe des "virtuellen Dojos" bereits erlernt. Es sei entscheidend, neue Wege zu finden, wie Menschen lernen können, sagte Hensch. Denn der Umfang und die Geschwindigkeit, mit der neue Fähigkeiten erworben werden müssen, nehmen zu.
Fehler vermeiden mit Big Data
Und der Einsatz von Technologie zur Vermeidung von Fehlern reicht noch tiefer - so weit, dass sie verhindert werden, bevor sie überhaupt passieren. Basierend auf historischen Daten lernen Algorithmen vorherzusagen, wann Mitarbeiter wahrscheinlich ihren nächsten Fehler begehen werden. Aufgrund ihrer bisherigen Leistungen können sie dann einen Arbeitsschritt trainieren oder werden nicht für ihn eingeteilt.
Die Künstliche Intelligenz kann sogar voraussagen, wann Mitarbeiter das Unternehmen verlassen könnten, so dass Hugo Boss bereits vorher neue Kollegen für einen Job einstellen und ausbilden kann. Maschinendaten erlauben auch Annahmen darüber, wann die nächste Wartung erforderlich ist und tragen so dazu bei, Ausfallzeiten und Kosten zu reduzieren.
Video (Englisch): Joachim Hensch spricht über die Smart Factory bei einem TEDxTalk
"Ich interessiere mich für die Verbindung zwischen Mensch und Maschine. Maschinendaten sind wie Musik", sagt Hensch. "Ich spüre die Musik von Maschinen auf und bringe sie in Zusammenhang mit den Menschen, die mit den Maschinen arbeiten."
Es bereits sei möglich die Wartungen für die Zuschneidemaschinen vorherzusehen, aber es immer noch schwierig, Daten für Nähmaschinen zu sammeln, sagt Hensch. Die Dichte der Metallstrukturen, die durch die große Anzahl dieser Maschinen entsteht, macht es für Computer schwierig, ihre Daten zu erfassen.
Das ultimative Ziel der Smart Factory ist die Erstellung eines sogenannten ‘digitalen Zwillings’. Er könnte mithilfe von vergangenen Daten alles innerhalb der Fabrik auf einem Computer nachbilden - Mitarbeiter, Maschinen und Prozesse. Mit diesem könnte dann, vorhergesagt werden, was in Zukunft geschehen wird, erklärte Hensch: "Es ist ein schöner Moment, wenn Sie beginnen zu verstehen, was in Ihrer Fabrik oder Organisation in der nächsten Woche und in den kommenden Monaten passieren wird".
Bild: Izmir | Hugo Boss