Leder ist upgecycelter Abfall – Eine Diskussion über Leder und Nachhaltigkeit
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In vielen Orten gibt es bis heute eine Gerberstraße, einen Gerberweg, oder eine Gerbergasse. Doch das Gerberhandwerk selbst ist aus den allermeisten Städten längst verschwunden. Und damit auch viel Wissen und Verständnis darüber, wie Leder hergestellt wird. Aber dieses Wissen wäre wichtig, um das Imageproblem, das Leder und Lederschuhe seit Jahren hat, besser einordnen zu können und um eine ausgewogene Nachhaltigkeitsdebatte führen zu können.
Manfred Kaußen kommt aus der Chemieindustrie und war viele Jahre in der weltweiten Lederindustrie tätig. Heute berät er Unternehmen und leitet Seminare zum Thema Leder, beispielsweise beim Institut Hohenstein. FashionUnited hat mit dem langjährigen Kenner der Branche gesprochen und gefragt warum Leder immer wieder in der Kritik steht, welche Maßnahmen die Branche ergreift und wohin die Reise gehen könnte.
Imageproblem Nr. 1: Chrom und undurchsichtige Lieferketten
Das Imageproblem von Leder hatte in den letzten Jahren vor allem eine Ursache: Chrom (VI). Immer wieder fallen bei Produkttests von Verbraucher:innenmagazinen oder Prüfinstituten Lederprodukte negativ auf, weil darin erhöhte Werte von gesundheitsschädlichem Chrom (VI) nachgewiesen wurden. Man fand Chrom (VI)-Rückstände beispielsweise in (Kinder-)Schuhen, Handschuhen, Geldbörsen, Schmuck und Gürteln. Dabei dürfen Ledererzeugnisse, die mit der Haut in Berührung kommen, schon seit 2015 in der EU nicht mehr in den Verkehr gebracht werden, wenn ihr Chrom (VI)-Gehalt einen bestimmten Grenzwert übersteigt. Für Kinderschuhe gilt diese Regelung zumindest in Deutschland noch länger.
Zumindest für den Gesetzgeber ist Chrom (VI) somit kein Thema mehr. „Das Problem Chrom (VI) ist in Europa eigentlich gelöst“, bestätigt auch Manfred Kaußen. Dass dem so ist, ist vor allem der Nachhaltigkeitsinitiative der deutschen Schuhindustrie, cads e.V., zu verdanken, die zusammen mit der Leather Working Group (LWG) eine inzwischen weltweit verbreitete Anleitung zur Vermeidung von Chrom (VI) verfasst hat.
Offenbar ist es aber dennoch nicht so einfach, diesen Stoff zuverlässig aus der Produktion zu verbannen. „Das Problem ist, dass Chrom (VI) aus dem unbedenklichen Chrom (III) entstehen kann, wenn man seine Prozesse beim Gerben nicht genau unter Kontrolle hat“, erklärt Kaußen weiter. Dass es scheinbar nicht alle Gerbereien so genau nehmen, „hängt wiederum damit zusammen, dass die meisten Gerbereien in Billiglohnländer abgewandert sind, und Leder heute durch eine global weit verzweigte, kleinteilige Lieferkette mit handwerklich geprägten Strukturen gekennzeichnet ist.“
Imageproblem Nr. 2: Leder stammt von toten Tieren
Während die einen Leder als Naturmaterial lieben, verabscheuen es andere genau wegen dieses „natürlichen“ Ursprungs: Leder ist nun mal konservierte Haut von geschlachteten Tieren, und immer mehr Menschen distanzieren sich davon. Laut Statista hat sich die Anzahl der Veganer:innen in Deutschland in den letzten sechs Jahren nahezu verdoppelt und lag 2022 bei 1,58 Millionen Menschen. Entsprechend sinkt das Interesse an Fleisch und damit auch an Lederprodukten, da Leder untrennbar mit dem Fleischkonsum verbunden ist. „Allein wegen der Haut wird kein Großtier geschlachtet“, sagt Kaußen. „Die Häute sind nur ein Abfallprodukt der Fleischproduzenten und machen gerade einmal ein Prozent des Fleischumsatzes aus. Das ist kein Anreiz zur Tierhaltung.“ Für Tiere, die wegen ihres Fells gezüchtet werden, gilt das natürlich nicht.
Allerdings ist die weltweite Entwicklung eine ganz andere als in Europa oder in den USA, wo der Veganismus überall zunimmt, denn global steigt der Fleischkonsum um etwa zwei Prozent jährlich. Das heißt, es werden immer mehr Tiere geschlachtet, und damit fallen automatisch auch immer mehr Häute an. „Würden diese nicht zu Leder weiterverarbeitet, müssten sie entsorgt werden“, gibt Kaußen zu bedenken, das wäre keineswegs sinnvoll. Tatsächlich ist das auch ein Ergebnis einer Studie der Tierschutzorganisation WWF, die 2022 veröffentlicht wurde. Demnach übersteigt das weltweite Wachstum der Rindfleischnachfrage die Ledernachfrage inzwischen bei weitem. “Wenn Lederprodukte nicht aus Häuten hergestellt werden, die von der Rinder- und Milchindustrie produziert werden, werden die Häute in der Regel entweder zu Gelatine verarbeitet oder auf Deponien gelagert, wobei in letzterem Fall Methan freigesetzt wird”, heißt es in der Studie. Allein in den USA würden nach Schätzungen inzwischen rund 17 Prozent der Häute entsorgt.
Entsprechend kritisch sieht Kaußen daher auch die vielen Lederalternativen, die in den letzten Jahren mit viel Marketing-Budget auf den Markt gekommen sind. Sie lösen weder das Problem, was mit den sowieso anfallenden Tierhäuten geschehen soll, noch haben sie im Vergleich zu Leder bessere Eigenschaften oder eine bessere Energiebilanz. Kaußen hat sich schon viele Alternativen angeschaut: „In vergleichenden Versuchen zeigen keine der Lederalternativen das universelle Leistungsspektrum wie Leder selbst.“ Und ergänzt noch: „Zwar sagt das keiner, aber es ist völlig klar: Der größte Treiber für die Verwendung von Lederalternativen ist der Preis.“ Kunstleder kauft man als homogene Meterware auf der Rolle, Leder gibt es dagegen nur in „Hautform“, es ist immer unterschiedlich und als Naturprodukt selten makellos. Leder zu verarbeiten ist damit immer aufwändiger als die Verwendung von synthetischen Kunstledern.
Chromgerbung ist eine Erfolgsgeschichte
Jährlich werden rund 270 Millionen Rinderhäute weltweit zu Leder verarbeitet, etwa 85 Prozent davon mit Chromgerbung (Stand 2018). Aber wieso muss Leder eigentlich mit Chrom gegerbt werden, wenn dabei doch gesundheitsschädliche Stoffe entstehen können? Tatsache ist, dass die Chromgerbung eine echte Erfolgsgeschichte ist. In der Lederindustrie ist sie daher „eingeschlagen wie eine Bombe!“, sagt Kaußen. Die Chromgerbung geht schneller und ist materialsparender, die Leder sind reißfester als pflanzlich gegerbte Leder, sie sind weicher, leichter, besser zu färben und lassen sich besser hydrophobieren (wasserabweisend ausrüsten).
Vor allem aber hat die Chromgerbung die weltweite Lieferkette von Leder überhaupt erst möglich gemacht. Früher waren Gerbereien notwendigerweise dort angesiedelt, wo Tierhäute anfielen, in der Nähe der Schlachtereien. Denn frische Tierhäute mussten schnell weiterverarbeitet werden damit sie nicht verderben, lange Transportwege waren aufgrund der fehlenden Konservierung nicht möglich. „Heute ist es so, dass die Tierbestände nicht zwingend dort sind, wo sich die Gerbereien befinden“, erklärt Kaußen. „Dass die Chromgerbung lange Transportwege ermöglicht, war ein ganz wesentliches Kriterium für ihren Erfolg.“ ‚Wet Blue‘, so wird das frisch gegerbte offenporige Leder mit seinem charakteristischen bläulichen Farbton als Halbfabrikat bezeichnet, ist global transportfähig und lässt sich gut lagern, so dass ein unbegrenzter internationaler Vertrieb und weltweite Weiterverarbeitung möglich sind. So kommt es, dass heute Brasilien der weltweit größte Rindfleischproduzent ist, dessen Bestand sich seit den 1960er Jahren mehr als vervierfacht hat. Aber China ist der größte Abnehmer von Wet Blue Leder.
Es gibt Alternativen, aber nur im kleineren Maßstab
Natürlich gibt es auch Alternativen zur Chromgerbung, Tatsache ist aber, dass es bislang keine Alternative zu Wet Blue gibt. So, wie die Lieferketten heute aufgebaut sind, geht es nicht ohne lange Transportwege, und die ist nur mit Wet Blue Ledern möglich.
Beispielsweise gibt es auch sogenannte “Wet White” Leder, die auf Aldehyd-Gerbung basieren. Dieses Verfahren kam schon in den 80 und 90er Jahren auf, weil die Automobil-Industrie für Ledersitze und Innenraumausstattung nach Ledern suchte, die bei der Entsorgung keine giftigen Substanzen emittierten. Denn auch bei der Verbrennung kann Chrom (VI) entstehen. Wet White Leder sind chromfrei gegerbte Leder, aber diese lassen sich nicht als Halbfabrikat um den ganzen Globus transportieren, sie würden verderben. Diese Technik eignet sich für Regionen, in denen die Lieferkette vom Schlachthof über die Gerberei bis zum Schuhhersteller noch einigermaßen kurz ist. „Wet White findet man daher eher nur innerhalb der EU, es gestattet keinen Handel“, so Kaußen.
Darüberhinaus gibt es auch Pflanzengerbungen mit vegetabilen Gerbstoffen wie Eichenrinde, Kastanienholz und viele weitere. Viele dieser Gerbstoffe wurden schon vor Jahrhunderten zum Gerben von Leder eingesetzt, und viele davon erfahren jetzt angesichts der aktuellen Nachhaltigkeitsbemühungen eine neue Renaissance. Könnten diese traditionellen Gerbverfahren die Chromgerbung ablösen? Eher nicht. Denn zum einen dauern sie wesentlich länger (bis hin zu mehreren Jahren), weshalb sie in der Regel auch wesentlich teurer sind. Zum anderen mangelt es schlicht am Gerbstoff. „Die Einsatzmenge von vegetabilem Gerbstoff ist im Vergleich zur Chromgerbung wesentlich höher – so viel Gerbstoff hat man gar nicht“, erklärt Kaußen.
Hoffnung Wet Green: Gerbstoffe aus Olivenblättern
Viel Hoffnung setzt er daher auf einen neuen vegetabilen Gerbstoff, der als ‚Wet Green‘ bezeichnet wird und vor rund 15 Jahren zum Patent angemeldet wurde. Der Gerbstoff stammt aus den Blättern von Olivenbäumen, die im Herbst natürlicherweise vom Baum fallen. Der Vorteil: „Olivenblätter sind unbegrenzt verfügbar“, erklärt Kaußen, „und dieses Verfahren gestattet den vollständigen Verzicht auf konventionelle Gerbstoffe der Wet Blue- und Wet White-Verfahren.“ Diese Leder sind komplett biologisch abbaubar und laut Kaußen „das Synonym für Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit im Bereich Leder“.
Dieses Verfahren ist nicht mehr im Versuchsstadium, sondern bereits industriell umgesetzt und kann voll in eine bestehende Infrastruktur und in bekannte Gerbabläufe integriert werden. Trotz dieser Vorteile ist der Anteil der Olivenleder am Gesamtmarkt noch sehr gering, „das braucht einfach Zeit“, so Kaußen. Zudem lassen sich Olivenleder nicht hydrophobieren, so Kaußen, weshalb sie beispielsweise für Outdoorschuhe nicht geeignet sind.
Neue Regulierungen stehen bevor: Bisphenole, PFAS und Kreislaufwirtschaft
Die Lederchemie hat in den letzten Jahren immer wieder auf liebgewonnene Chemikalien verzichten bzw. die Verantwortung für gesundheitsschädliche chemische Rückstände in ihren Produkten übernehmen müssen. Das gilt zum einen für Chrom (VI), auch wenn es nicht absichtlich in die Leder gelangt, und zum anderen für Azo-Farbstoffe, die inzwischen ebenfalls weitgehend verboten sind. Neue Regulierungen kündigen sich bereits an. Beispielsweise ist Wet White aufgrund der verwendeten Bisphenole in die Kritik geraten.
Bisphenol A (BPA) hat eine östrogen-ähnliche Wirkung und verändert den Hormonhaushalt. Derzeit gibt es Bestrebungen, diese Stoffe im Rahmen der REACH-Verordnung stärker zu reglementieren. Ähnliches passiert mit PFAS (wird auch PFC bezeichnet), das sind per- und polyfluorierte Chemikalien, die verwendet werden, um Schuhe wasserdicht zu machen. PFAS stehen in dem Verdacht, Krebs zu verursachen. Sie bauen sich in der Umwelt nicht ab, daher findet man sie inzwischen überall auf der Welt, und ihre Konzentration wächst stetig. Insgesamt gibt es über 10.000 dieser PFAS-Verbindungen, etwa die Hälfte davon könnten nach dem Willen der EU bald verboten werden. Zumindest für die Schuhindustrie sei das zu verschmerzen, so Kaußen: „Man inzwischen gute Alternativen gefunden.“
Erwähnenswert wären da noch die Biozide. Das sind Konservierungsstoffe, mit denen die Lederindustrie arbeitet. Auch hier stehen Änderungen bevor, weil diese Stoffe auf Mikroorganismen wirken und beispielsweise in biologischen Kläranlagen großen Schaden anrichten können.
Letztlich wird es perspektivisch auch darum gehen, den Schuhsektor stärker in die neuen Regelungen zur Kreislaufwirtschaft einzubinden. Derzeit ist die Schuhindustrie beispielsweise noch meilenweit davon entfernt, Schuhe recyceln zu können. Das Reparieren geht immerhin ganz gut.
Fazit: Leder ist upgecycelter Abfall der Fleischindustrie
Kaußen hält es erwartungsgemäß nicht für realistisch und auch nicht für ökologisch sinnvoll, Leder durch Alternativen zu ersetzen. Bis Leder tierleidfrei aus dem Labor gesourct werden kann, dauere es laut Kaußen noch Jahrzehnte. Zu welchem Fazit sollte man also kommen in Bezug auf Leder? Klar ist, dass die Menge der Tierhäute direkt mit unserem Fleischkonsum zusammenhängt. Solange Fleisch gegessen wird, solange macht es ökologisch keinen Sinn, Leder zu verteufeln und nach – womöglich Erdöl basierten – Alternativen zu suchen. Würde man Leder erst heute erfinden, würde man es als ein gelungenes Upcycling von Abfällen der Lebensmittelindustrie feiern - die Modewelt wäre vermutlich begeistert.
Verbesserungsmöglichkeiten gibt es aber natürlich dennoch viele. Vor allem in Bezug auf die Chemikalien, die zum Gerben eingesetzt werden und deren Regulierung innerhalb der letzten Jahrzehnte stetig verschärft wurde. Hier würde man sich wünschen, dass umwelt- und gesundheitsfreundliche Technologiealternativen schneller skaliert würden und den Konsument:innen auch bekannt sind. Auch die langen Transportwege, beispielsweise von Brasilien nach China und von China nach Europa, erscheinen ökologisch fragwürdig, sind aber leider gängige Praxis in der gesamten Textilindustrie und kein Alleinstellungsmerkmal des Ledermarkts. Im Gegenteil: Wet White und Wet Green Leder haben bis heute stark regional geprägte Lieferketten.
Gleichzeitig haben großindustrielle Strukturen – beispielsweise in Brasilien und in den USA, wo viele Tiere geschlachtet werden – den Vorteil, „dass die dortigen Gerbereien Größen erreicht haben, die dazu führen, dass sie professioneller betrieben werden, über Kläranlagen verfügen und Arbeiter:innenrechte stärker beachten“, sagt Kaußen. Auch dies müsse man beachten.
Das Thema Leder ist komplex, sich damit zu beschäftigen lohnt sich.
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