Wo bleibt der systemische Wandel in der Modebranche?
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Bei der Lektüre des Buches „Der Mensch ist ein gemästetes Huhn: Wie die Lebensmittelindustrie uns krank macht“, in dem der Autor und Journalist Teun van de Keuken die Lebensmittelindustrie unter die Lupe nimmt, wurde ich mehrfach an die Modeindustrie erinnert.
Van de Keuken argumentiert, dass es fast unmöglich ist, der (ultra)verarbeiteten Nahrung zu entkommen, die uns immer und überall aufgezwungen wird. „Gesundes Essen kann da nicht mithalten. Es ist teurer, wird weniger beworben, ist an weniger Orten erhältlich und nicht annähernd so bequem und schmackhaft wie die Zucker-Salz-Fett-Snacks, die man ohne zu kauen hinunterschlingt", sagt Van de Keuken.
Eine Parallele zum Modesektor: Die Verbraucher:innen wollen nachhaltiger einkaufen, aber die meisten Modeartikel, die uns angepriesen werden, sind Kleidungsstücke, die meistens nicht mit Rücksicht auf Mensch und Umwelt hergestellt werden. Es überrascht nicht, dass diese Kleidungsstücke nach wie vor die meistgekauften Artikel sind (zur Veranschaulichung: Inditex, Eigentümer von Zara, ist zum Beispiel eines der reichsten und mächtigsten Modeunternehmen der Welt).
In seinem Buch zieht Van de Keuken einen Schlussstrich unter die Argumentation von Unternehmen, die die Herstellung und den Verkauf ungesunder oder unethischer Produkte mit dem Argument rechtfertigen, dass sie lediglich die aufgrund des Kaufverhaltens wahrgenommene Verbraucher:innennachfrage befriedigen.
Unsinn, sagt er. „Die Verbraucher:innen entscheiden sich vielleicht für bestimmte Produkte wie Kleidung und Schokolade, aber sie entscheiden sich nicht bewusst für die Missstände, die mit ihrer Herstellung verbunden sind. Und sei es nur, weil sie nicht genügend Kenntnisse über die Produktionsmethoden haben. Außerdem gibt es bei weitem nicht immer Alternativen, die auf saubere Weise hergestellt werden. Wenn man den Leuten schöne, schmackhafte und billige Sachen anbietet, ist es logisch, dass sie diese auch wollen", sagt Van de Keuken.
Fast Fashion – also schöne, billige Trendkleidung – ist das, was auf den Straßen den Takt angibt und uns in Online-Umgebungen präsentiert oder geradezu aufgezwungen wird. Man denke nur an die Werbung der großen Plattformen im Internet und in den sozialen Medien oder an die fragwürdigen Praktiken chinesischer Giganten. Dem Onlinehändler Temu zum Beispiel wird vorgeworfen, so genannte Dark Patterns zu verwenden, verbotene Techniken zur Manipulation der Verbraucher).
Dabei könnte man argumentieren, dass die gesamte Modeindustrie – mit Ausnahmen – zu Fast Fashion geworden ist. Und damit meine ich eine andere Bedeutung von Fast Fashion: im Sinne von 'schnell wechselnden Kollektionen'. Mode in Eile? schrieb mein Journalistenkollege Don-Alvin Adegeest im Jahr 2013. Der Titel stimmt auch anno 2024 noch, aber das Fragezeichen kann man streichen. Zehn neue Kollektionen pro Jahr, wöchentlich oder sogar täglich neue Mode in den Regalen ist keine Seltenheit. Wichtiges Detail: Nicht nur bei den sogenannten Fast-Fashion-Unternehmen wie Zara und Shein, sondern auch bei den Luxusmarken wie Dior oder Chanel und allen Preisklassen dazwischen.
Der Grund, warum nachhaltige Mode (Kleidung, die mit Rücksicht auf Mensch und Umwelt hergestellt wird) noch nicht zum Mainstream geworden ist, liegt darin, dass die Fast Fashion die Modeindustrie dominiert.
Nachhaltige Kleidung ist weniger allgegenwärtig, schwerer zu finden (weil weniger Geld für prominente Schaufenster und Werbung zur Verfügung steht) und in der Regel teurer. Würden wir die Kosten der Schäden, die die Produkten verursachen, auf die Hersteller abwälzen, würden sie ganz anders bepreist, so Van de Keuken in seinem Buch. True Pricing nennt sich das. Wendet man dies auf die Modeindustrie an, so würde verantwortungsvoll produzierte Kleidung billiger und Mode, die Menschen ausbeutet und/oder die Umwelt schädigt, teurer werden.
Van de Keuken argumentiert, dass wir ein System haben, in dem die Umwelt- und Gesundheitskosten der Lebensmittelindustrie auf die Gesellschaft abgewälzt werden. „Die Probleme von verarbeiteten Lebensmitteln sind wissenschaftlich hinreichend klar", argumentiert er. Und er schreibt: „Wenn das System nicht funktioniert, ist es an der Zeit, das System zu ändern."
Auch in der Modeindustrie ist der dringende Bedarf an Nachhaltigkeit seit Jahrzehnten offensichtlich. Jahr für Jahr nehmen sowohl die Bedeutung als auch die Dringlichkeit dieses Themas zu, wie Veröffentlichungen, Medienberichte und Gespräche darüber sowohl innerhalb als auch außerhalb der Modeindustrie zeigen.
Einige Schattenseiten der Modeindustrie: unfaire Entlohnung der Menschen, die unsere Kleidungsstücke am anderen Ende der Welt herstellen, schlechte Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken und schädliche Chemikalien, die in das Wasser in der Umgebung der Fabriken eingeleitet werden, mit all ihren Folgen. Denken Sie auch an den wachsenden Berg von Bekleidungsabfällen: unverkaufte Kleidungsstücke, die direkt in die Verbrennungsanlage wandern oder verschwinden, nur um irgendwo wieder aufzutauchen – denken Sie nur an die Bilder der „Kleiderwüste" in Chile.
Wie schön wäre es, wenn Kleidung uns nicht nur schöner machen und uns ein gutes Gefühl geben würde (an der Oberfläche), sondern auch tatsächlich schön gemacht wäre (in der Tiefe).
Nachhaltige Mode muss führend werden. Ich wurde auch an „Der Ruf nach Veränderung“ von Modeprofi Ellen Haeser aus dem Jahr 2017 erinnert.
Heute arbeiten unzählige Menschen und Pioniere an einer nachhaltigeren Modeindustrie. Dazu gehören die Erfindung innovativer Materialien , aus denen Kleidung hergestellt werden kann, innovative nachhaltige Modedesigner:innen und Unternehmer:innen wie Joline Jolink (die ein regeneratives Unternehmen gegründet hat: Sie stellt ein Kleidungsstück aus ihrem eigenen Boden her) oder The New Optimist (das auf Kreislaufwirtschaft setzt, indem es Kleidung mit Pfand verkauft) sowie Fachleute, die das Textile-to-Textile Recycling oder die Reparatur in der Branche voranbringen. Es gibt auch viele (gemeinnützige) Organisationen, die sich zum Beispiel für bessere Arbeitsbedingungen oder einen existenzsichernden Lohn einsetzen, und Nachhaltigkeitsexpert:innen, die Unternehmen bei der Umstellung auf umweltfreundlichere Praktiken helfen.
Aber gleichzeitig ist nachhaltige Mode immer noch „nur" ein Segment auf der Messe, so wie es in den Modegeschäften nur ein „grünes" Regal mit Kleidung gibt.
Mit anderen Worten: Die Modeindustrie hat sich immer noch nicht wesentlich verändert – und arbeitet immer noch weitgehend traditionell: Es gibt eine lange Lieferkette, was bedeutet, dass der Sektor nicht schnell oder flexibel ist und auch nicht schnell auf Marktveränderungen reagieren kann. Dies wurde während der Corona-Pandemie schmerzlich deutlich. Der Modekalender wird von den Modefachleuten manchmal als Fluch angesehen, und es herrscht seit Jahren Unzufriedenheit mit der Ausverkaufskultur.
Das hat mich zum Nachdenken gebracht: Was braucht es also für diesen radikalen Wandel?
Van de Keuken schreibt in seinem Buch, dass mehr Rechtsvorschriften erforderlich sind, um ein gesünderes Lebensmittelumfeld durchzusetzen. Es muss Regeln für die Lebensmittel geben, die Unternehmen herstellen. „Die Regierung hat eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Bürger:innen und muss Gesetze erlassen und Regeln durchsetzen, die sie gesund erhalten", argumentiert er.
Nun sind (endlich) mehr nachhaltige Gesetze und Vorschriften für die Modeindustrie in Vorbereitung, wofür sich Nachhaltigkeitsexpert:innen schon seit Jahren einsetzen. Dazu gehören ein härteres Vorgehen gegen Greenwashing, ein starker Vorstoß für mehr Rückverfolgbarkeit durch die Einführung digitaler Produktpässe , eine obligatorische Nachhaltigkeitsberichterstattung für Unternehmen (CSRD) und eine Richtlinie, die Organisationen zwingt, gegen Umwelt- und Menschenrechtsverletzungen in der Lieferkette vorzugehen (CSDDD).
Aber diese Verordnungen (allein) werden keinen systemischen Wandel herbeiführen, gleichzeitig wird – berechtigte – Kritik laut. Die neuen Regeln zwingen die Unternehmen noch nicht wirklich dazu, sich mit dem Kern ihres Geschäfts zu befassen. „Eine wirkliche Nachricht in Sachen Nachhaltigkeit wäre es, wenn die Unternehmen anfangen würden, ihre Produktionszahlen deutlich zu reduzieren", sagte mir Simone Preuss, FashionUnited-Journalistin und Expertin für Nachhaltigkeit, kürzlich.
Derzeit sind die Nachhaltigkeitsbemühungen der Unternehmen oft nur ein Tropfen auf den heißen Stein oder beinhalten Greenwashing. Das Geschäftsmodell der Unternehmen, die über ihre grünen Bemühungen berichten, ist in der Regel der Nachhaltigkeit diametral entgegengesetzt: Geld verdienen durch den Verkauf neuer Produkte und die ständige Einführung neuer Modeartikel für die Verbraucher:innen.
Modeunternehmen sind Unternehmen, und an den Konferenztischen – zumindest der großen, börsennotierten Unternehmen – dreht sich alles um die Steigerung von Umsatz und Gewinn. Wie Van de Keuken es ausdrückte: „Unternehmen sind in erster Linie auf der Erde, um ihre Gewinne und Aktionäre glücklich zu machen.“ Bekleidungsmarken lassen ihre Produkte oft so billig wie möglich herstellen, weil dann die Gewinnspanne am höchsten ist. Und dieser Vorsatz gilt auch für Luxusunternehmen. Sie erinnern sich vielleicht an die jüngsten Schlagzeilen und polizeilichen Ermittlungen in Italien, die zeigten, dass Dior für die Herstellung von Luxustaschen, die für 2.780 US-Dollar (2553 Euro) verkauft werden, nur 57 US-Dollar zahlte, was auf ausbeuterische Arbeitspraktiken bei seinen Zulieferern hindeutet. Oder dass Bloomberg Anfang des Jahres enthüllte, dass die LVMH-Marke Loro Piana luxuriöse Vikunja-Pullover zu einem Einzelhandelspreis von 9.000 US-Dollar verkauft, den Wollbetrieben aus der indigenen Gemeinde Lucanas in Peru aber nur einen Hungerlohn zahlt (und das Dorf lebt immer noch weitgehend in Armut).
Was können wir also tun? Es ist Zeit für kollektives Handeln!
In seinem Buch wendet sich Van de Keuken nicht nur an unsere politischen Entscheidungsträger:innen und Unternehmen, sondern vor allem an „das Kollektiv". „Es ist also vor allem etwas, womit wir, die Gesellschaft, arbeiten müssen", meint er. „Nicht als Individuen, die für ihre eigene Ernährung und ihr Wohlbefinden verantwortlich sind, von diesem Hirngespinst der Industrie müssen wir uns befreien, sondern als Kollektiv, als Gesellschaft. Schließlich sind wir nicht in erster Linie Verbraucher:innen, sondern Bürger:innen (...)"
Der Appell von Van de Keuken erinnerte mich auch an das Buch und die Bewegung „Moralische Ambition“ von Rutger Bregman von dem Medium ‚De Correspondent‘. Moralische Ambition erklärt Bregman als „den Willen, die Welt drastisch zu verbessern“ und „seine Karriere den großen Problemen unserer Zeit zu widmen (...) Es ist der Wunsch, etwas zu bewirken und etwas zu hinterlassen, das wirklich zählt“, schreibt er in seinem Buch. Seine Botschaft an die Leser:innen: Macht eure Ideale zu eurer Arbeit.
Was wäre, wenn mehr Menschen aus der Modebranche, insbesondere diejenigen, die noch in der "Mainstream-Mode" arbeiten (oder studieren), ihre Köpfe zusammenstecken würden? Was wäre, wenn die talentierten Fachleute, die jetzt – um Bregmans Worte zu gebrauchen – in nicht so nützlichen oder sogar schädlichen Unternehmen arbeiten, ihre Talente für eine nachhaltige Modeindustrie einsetzen würden?
Würden wir dann zu einer Modeindustrie kommen, in der Kleidung (wieder) mit Liebe getragen wird, bis die T-Shirts bis auf den Faden abgenutzt sind? Wo Kleidung ausschließlich für ihre Träger:innen hergestellt wird, und nur wenn sie gebraucht wird: auf Bestellung und ganz nach Maß. Wo die Menschen einen fairen – oder besser noch – einen guten Lohn für ihre (manuelle) Arbeit erhalten. Wo wir Kleidung aus nachhaltigen Fasern und Rohstoffen herstellen, sie mit natürlichen Farben färben, die der Umwelt keinen Schaden zufügen, und die Kleidung schließlich wieder in den Boden zurückkehren‘ und als Rohstoff für neue Fasern dienen kann? Indem wir uns um die Natur und die lokalen Gemeinschaften kümmern und die Welt für künftige Generationen gesund erhalten oder wiederherstellen, damit sie von unseren Verdiensten profitieren können, anstatt mit den Folgen der Ausbeutung und Verschmutzung der Erde und ihrer Ressourcen zu kämpfen?
Ich begehe hier natürlich einen klassischen Trugschluss. Henry Ford, der das Automobil massentauglich machte und damit das Transportwesen revolutionierte, drückte es so aus: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.“ Wahrer Fortschritt erfordert manchmal, dass wir außerhalb der konventionellen Erwartungen und Zwänge denken, um wirklich innovative Produkte und Ideen zu schaffen.
Ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie die nachhaltigere Zukunft der Modeindustrie aussieht. Her mit der Revolution!
Abschließend fordert Bregman die Leser seines Buches auf, sich selbst in Bewegung zu setzen (und „nicht anderen die Schuld zu geben"). „Wenn man das schafft und den Weg der moralischen Ambition wählt, kann der Welleneffekt enorm sein. Gerade weil Ihr Verhalten ansteckend ist, beginnt eine bessere Welt bei Ihnen selbst", sagt Bregman.
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Quellen:
- Das Buch "De mens is een plofkip, hoe de voedingsindustrie maakt ons ziek" von Teun van de Keuken, Verlag Thomas Rap, vom April 2024. Passagen aus dem Buch werden hier mit Genehmigung veröffentlicht.
- Das Buch 'Moralische Ambition' von Rutger Bregman von De Correspondent, März 2024.
- Aktuelle Interviews mit der Journalistin Simone Preuss und der Modefachfrau Stijntje Jaspers von der ‚Stichting Fibershed Nederland‘ über und für bereits veröffentlichte Hintergrundartikel.
- Business Insider Artikel 'Now we know how much it costs to make a $2,800 Dior bag' von Shubhangi Goel vom 3. Juli 2024.
- Bloomberg The Big Take Artikel "Loro Piana's $9,000 Sweaters Rely on Unpaid Farmers in Peru" von Marcelo Rochabrun, vom 13. März 2024.
- Der Newsletter 'Destroy your t-shirts' von Modeberater Alec Leach, vom 11. Juli 2024.
- Artikel aus dem FashionUnited-Archiv, u.a. von Simone Preuss und Don-Alvin Adegeest.
Dieser übersetzte Beitrag erschien zuvor auf FashionUnited.nl.